Wein aus dem Ahrtal

Wein aus dem Ahrtal

Nach der Flutkatastrophe im letzten Jahr ist Wein aus dem Ahrtal so beliebt wie nie zuvor. Viele Betriebe schöpfen neuen Mut für Veränderungen.
Datum10.04.2022

Versandkarton mit Wein aus dem Ahrtal

Volker Riske steht im Lagerraum seines Weinguts und packt Weine in Versandkartons. Etwas, was er seit einem halben Jahr viel häufiger macht, als in den letzten Jahren. „Seit der Flut verkaufen wir unsere Weine viel stärker über das Internet“, sagt der Winzer. An der Ahr war das lange unüblich, schließlich baute die Weinbranche in der beliebten Reiseregion jahrzehntelang auf den Säulen Tourismus und Gastronomie auf. Doch seit der Flut im vergangenen Jahr ist fast alles anders. Die alten Vertriebswege sind zerstört. Doch es gibt auch Nachrichten wie diese hier: Das Interesse an Wein aus dem Ahrtal ist so groß wie schon lange nicht mehr. „Die Nachfrage ist stark angestiegen. Und vor allem haben wir einige neue Kunden dazugewonnen“, erzählt Riske. Die einen wollen durch gezielte Einkäufe Solidarität zeigen, andere haben durch die Flut erstmals von den Spätburgunder-Spezialisten der Ahr gehört, sind neugierig – und bestellen. „Das gibt uns das Gefühl, dass wir für das neue Jahr gut aufgestellt sind“, sagt der Winzer.
 
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Helfer und Berufskollegen strömten an den kleinen Fluss

Eine Aussicht, die vor wenigen Monaten undenkbar war. Matthias Baltes ist Vorstandsvorsitzender der Winzergenossenschaft Mayschoss, einer von zwei großen Genossenschaften an der Ahr. Insgesamt 460 Mitglieder, meist Nebenerwerbswinzer, liefern ihre Trauben hier ab. „In den Tagen nach der Flut dachten wir, die komplette Lese 2021 sei abgeschrieben“, sagt Baltes. Doch es war die Weinbranche selbst, die den Ahr-Winzern eine Perspektive gab: Schon wenige Stunden nach der Katastrophe strömten Helfer und Berufskollegen aus allen Anbaugebieten an den kleinen Fluss. An manchen Samstagen kamen mehr als 2500 Menschen, um gemeinsam anzupacken. Sie hielten die Weinberge intakt, sie brachten Lese-Equipment mit und ernteten die Trauben, sie kümmerten sich um die Arbeit vor Ort, während die Menschen in der betroffenen Region mit Schock und Trauer zu kämpfen hatten. „Es ist vor allem den freiwilligen Helfern zu verdanken, dass es einen 2021er Jahrgang mit Wein aus dem Ahrtal geben wird“, sagt Baltes. Fast alle Weingüter konnten eine Lese einfahren. Meistens sehr improvisiert – im Weingut Riske wurde beispielsweise im Hof unter freiem Himmel gearbeitet. Die Winzergenossenschaft hingegen hatte Glück im Unglück: Ihre Produktionshalle liegt etwas erhöht und war deshalb intakt. Ganz im Gegensatz zum Rest des Unternehmens.
 
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Solidaritäts-Einkäufe irgendwann vorbei

Baltes und sein Team arbeiten in Containern, bis heute sind die Vinotheken und Verwaltungsgebäude zerstört. „Das Wichtigste ist, dass wir jetzt das Geschäft sichern, um die Arbeitsplätze zu erhalten“, sagt er. Doch dieses Geschäft ist nicht mehr so eingespielt wie vor der Flut. Damals wurde die Hälfte des Umsatzes in den Vinotheken erwirtschaftet, die nun zerstört sind. Also gilt es, neue Wege zu finden. Baltes setzt deshalb verstärkt auf Lebensmittelmärkte und das Onlinegeschäft. „Wir müssen unseren Vertrieb von Grund auf solide neu aufbauen. Das Argument der Solidaritäts-Einkäufe wird irgendwann vorbei sein“, sagt er. Die nächsten Monate werden für viele Winzer an der Ahr entscheiden, ob es sich wirklich lohnt, weiterzumachen. Denn fast alle haben große Teile ihrer oder sogar die gesamte Geschäftsgrundlage verloren.
 
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Basis ihrer Einnahmen weggespült

Für einen Ahr-Neustart sind die laufenden Einnahmen essenziell. Jedoch wurden in vielen Weingütern nicht nur Geräte und Maschinen, sondern auch Großteile des Jahrgangs weggespült – und damit die Basis ihrer Einnahmen. Einige hat es sogar noch schlimmer erwischt. Das Weingut Max Schell zählt zu den kleinsten Haupterwerbsweingütern an der Ahr, die Familie bewirtschaftete bis letzten Sommer rund zwei Hektar, das entspricht nicht einmal der Fläche von drei Fußballfeldern. Nach der Flut war ein Drittel davon zerstört. „Als ich zum ersten Mal die Flächen an der Ahr sah, wo früher unsere Reben standen, kamen mir fast die Tränen. Unsere Weinberge waren unter Schlamm und Trümmern begraben“, sagt Wolfgang Schulze-Icking, der das Weingut in dritter Generation führt. Ihm fehlt deshalb nicht nur die Fläche, um neue Weine herzustellen, sondern auch der vollständige 2020er-Rotweinjahrgang, der fortgespült oder ungenießbar wurde.
 
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Durch Solidarität von Winzerkollegen wieder auf die Beine

Dass die Familie trotzdem Weine verkaufen kann, verdankt sie Kollegen. „Ein Winzer aus der Pfalz rief direkt an und sagte, ich darf mir ein Spätburgunder-Fass aussuchen. Das hat er dann für uns abgefüllt und zum Verkauf überlassen. Ein Weingut vom Mittelrhein unterstützte uns mit Riesling“, sagt der Winzer. So verkauft das Weingut Schell derzeit nicht nur Weine aus dem Ahrtal, sondern auch Qualitätsweine aus anderen Gebieten – und kann damit wieder auf die Beine kommen. „Durch die Solidarität von Winzerkollegen haben wir wieder eine Perspektive bekommen“, sagt Schulze-Icking. So hat er eine Annonce geschaltet, mit der er nach neuen Weinbergen sucht. Er hofft, bald wieder die ursprüngliche Fläche bewirtschaften zu können. Seine Tochter Annika ist gerade mitten im Weinbaustudium und möchte so bald wie möglich im Weingut einsteigen.
 
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Zeit für Neues

Vielerorts hat sich durch die Flut die Perspektive verändert. Der Blick der Ahr-Winzer ist in die Zukunft gerichtet. Auch im Weingut Riske stehen die Zeichen auf Veränderung. „Wir waren mitten im Generationswechsel, doch das Ereignis hat den Wechsel noch mal mehr beschleunigt. Jetzt ist die Zeit für Neues, wir wollen die Chancen sehen”, sagt Riske. So schöpft die Familie Zuversicht. Die Abfüllanlage soll rechtzeitig repariert sein, eine neue Etikettiermaschine ist schon bestellt.
Neues aus dem Schlamm, das ist das Motto von Lukas Sermann. Der 31-jährige Winzer hatte in den Fluten alles verloren: Das komplette Weingut, seine Wohnung, der gesamte Besitz – alles zerstört. Doch dank der Hilfe von anderen konnte er aus dem Nichts seine Traubenlese stemmen: Eine Kelter wurde von einem rheinhessischen Kollegen ausgeliehen, die Lesekisten schickte ein Weingut von der Nahe, der Stapler kam direkt vom Hersteller. Die Lese stemmte er mit vielen Freiwilligen. Jetzt sind die Fässer voll, und Sermann steckt mitten im Wiederaufbau seines Weinguts. Eine Phase, in der der Winzer viele Möglichkeiten erkennt: Er hat neue Weinberge übernommen und plant, ein Restaurant aufzumachen. „Das war immer schon mein Traum. Und wenn wir ohnehin alles neu machen: Warum nicht jetzt?“
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