Feinschmecker Weinguide 2022
2020 wird den Weingütern als Turbo-Herbst in Erinnerung bleiben. Selten zuvor wurde so früh und so schnell gelesen. Die große FEINSCHMECKER-Verkostung für den Wein-Guide zeigt, was das für das Potenzial dieses Jahrgangs bedeutet
Nur wenige Tage vor der großen Verkostung für den Wein-Guide des FEINSCHMECKERS rief der 31-jährige Winzer Lukas Sermann in der Redaktion in Hamburg an. Er habe leider den Einsendeschluss für die Weine um wenige Tage verpasst, wir einigten uns auf das Nachreichen der Proben. Doch das Paket traf nie in der Redaktion ein. Wenige Stunden nach dem Telefonat riss eine katastrophale Flut im Ahrtal vieles mit, auch Sermanns Weingut und nahezu sämtliche Flaschen. All die Ahr-Weine, die sich bereits in unserem Lager befanden, wurden binnen einer Nacht zu etwas Besonderem. Fast ehrfürchtig probierte das Verkosterteam die exzellenten Spätburgunder des kleinen, schwer getroffenen Anbaugebiets. Dass die Qualität des 2020er-Jahrgangs an der Ahr einmal mehr außergewöhnlich gut war, wurde jedoch nach der Katastrophe zur Randnotiz.
Nicht nur die Spitzenweine, darunter die von Jean Stodden, der beiden Schwestern Meyer-Näkel und des Weinguts Kreuzberg, machen es Rotweinfans leicht, den Gütern zu helfen: Wer große Spätburgunder liebt, kann mit dem Kauf dieser Weine ein Anbaugebiet tatkräftig unterstützen. Noch nie war es leichter, Solidarität zu zeigen – etwas, was durch die Verkostung einmal mehr bestätigt wurde.
DIE FLUTKATASTRPHE
Die Flutkatastrophe war das prägende Thema der Weinbranche in den letzten Monaten. Vieles, was vorher wichtig war, rückte in den Hintergrund: Dass 2020 das dritte Trockenjahr in Folge war. Dass einige Anbaugebiete mit geringen Erntemengen auskommen mussten. Und natürlich, dass die Corona-Pandemie auch die Weingüter, gerade während der Lese, vor völlig neue Herausforderungen gestellt hatte.
DIE VERKOSTUNG
ÜBER 4800 FLASCHEN dieses außergewöhnlichen Jahrgangs hat das Team des FEINSCHMECKERS verkostet. Das Ergebnis: eine Auswahl der 500 besten Weingüter Deutschlands. Es war ein Jahr, das die Winzer in einem rasanten Tempo herausforderte. Das warme Frühjahr sorgte für einen frühen, vorgezogenen Reifezyklus, und das in ganz Deutschland. Nach der Blüte brauchen Reben etwa 100 Tage, um ihre Trauben zur Reife zu bringen. Als manche Winzer schon im Mai die weißen Blüten ihrer Rebpflanzen sahen, waren sie also darauf vorbereitet, dass dieses Jahr alles etwas schneller gehen würde. Aber mit diesem Galopp hatte dann doch niemand gerechnet. Ein trockener Spätsommer sorgte dafür, dass die Trauben nahezu gleichzeitig reif waren. Also musste es schnell gehen. „Die Burgunder-Lese fühlte sich nach Traubenlese im Sommer an, mit T-Shirt und kurzer Hose”, sagt Philipp Wittmann, der eines der besten Weingüter Deutschlands im rheinhessischen Morstein führt.
DER TREND
Der Trend der Stilistik geht eindeutig zu präzisen Weinen, wie Ingo Swoboda beschreibt. Er verkostet seit rund 25 Jahren Moselweine. „Die klassische, restsüße Mosel-Stilistik ist in vielen Betrieben rückläufig, zumindest aber durch straffe trockene Weine ergänzt worden, die kontinuierlich das Geschmacksimage der Mosel in Richtung internationaler Trend verändern”, sagt Swoboda. Wie großartig restsüße Mosel-Rieslinge sein können, beweisen Jahr für Jahr Weingüter wie Schloss Lieser, J.J. Prüm, Dr. Loosen, Willi Schaefer und Nik Weis: Sie beherrschen den traditionellen Stil in beeindruckender Perfektion.