Provence: Kulinarische Reise durch Südfrankreich
Provence – malerische Landschaft
Da ist dieser Blick aus dem Hotelzimmerfenster des Le Petit Nice in Marseille: Er fällt auf das türkisfarbene Mittelmeer und die kargen Felsen der Gefängnismauern von Château d’If. Dabei kommt einem der Gedanke, dass es der Graf von Monte Christo in seiner ungerechten Kerkerhaft zumindest panoramamäßig nicht schlecht getroffen hatte. Und dann ist da der Geruch von tiefgrünem Olivenöl von den alten Bäumen rund um Cotignac sowie das lila Funkeln, wenn der Lavendel gerade zu blühen beginnt. Es fließt alles im Kopf zusammen: Frühling in der Provence und das ungläubige Staunen, dergleichen wieder betrachten zu dürfen.
Bonjour Frankreich
Es klingt nach Postkarten- oder Instagramkitsch, aber irgendwie fällt es zwischen Marseille und Draguignan schwer, den Klischees zu entgehen. Andererseits: Vielleicht ist es gar kein Klischee, und ist es hier einfach immer noch La Vieille France, das alte Frankreich, in all seinen wundervollen Facetten. Und deshalb muss, wer die Provence verstehen will, nach der Landung am frühen Abend zuerst einmal hierherkommen: auf den alten Bouleplatz im Panier. Mittelmeer-Panorama inklusive.
Jung und Alt stehen hier zusammen und werfen ihre Kugeln. Das Spiel ist eine ernste Sache. Die Entfernungen werden sehr genau ausgemessen, der Sieger strahlt, die anderen granteln. Das ist natürlich kein Extremsport, kein Kalorienverbrenner, es ist eher genussvolles Ausdauerprogramm. Denn dabei wird Pastis getrunken, der eine mit mehr, der andere mit weniger Wasser. Noch intensiver aber wird lamentiert, über Politik, den nächsten Spielzug und über das gute Essen, das die Spieler zum Lohn am Abend erwartet.
Umdenken in Marseille
Und da gibt es in Marseille gerade viel zu besprechen, denn die Provenzalen haben ihre Regionalküche neu erfunden. Früher befand sich rund um den Hafen eine Touristenfalle neben der anderen, in den Strandrestaurants in Marseille, Cassis und in der Haute Provence dominierte viel Schund, und das zu hohen Preisen.
Doch der Terror von 2015 und die Pandemie haben die Touristen abgeschreckt. Und so mussten sich Stadt und Land ringsum neu orientieren. Marseille hat sich herausgeputzt, ohne seine Patina gänzlich preiszugeben. Immer noch stehen die stolzen Fischhändler am alten Hafen und verkaufen Schwertfisch und Co direkt vom Kahn. Immer noch gibt es die kleinen Gassen mit Graffiti und Wäscheleinen, die italienische Vergangenheit lässt grüßen.
Doch die Zukunft strahlt allerorten, weil die Franzosen eben nicht erst drei Volksbefragungen machen, sondern kühne Bauten einfach entstehen lassen – den Bürgern wird es schon gefallen. Und es gefällt ihnen. So haben sie das futuristisch anmutende Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers – kurz Mucem genannt – sofort ins Herz geschlossen, auch weil es nachts so schön leuchtet. Auf der Promenade am Hafen liegen keine Zigarettenkippen herum, alles glänzt, es ist eine ganz andere Stadt als vor 30 Jahren. Am Hafen haben sie die grandiose Grotte Cosquer mit ihren Höhlenmalereien in der Stadt auf hölzernen Stegen nachgebaut – eine Glanzidee moderner Touristenbespaßung.
Kleine Perle im provenzialischen Rouet
Doch auch drumherum bommt es: Das alte Arbeiterviertel Rouet nahe des modernen Stadions war früher eher zu meiden, es wimmelte nur so von Falafel und Halal-Schlachtereien, heute wirbelt hier Coline Faulquier durch ihre winzige Küche, im Erdgeschoss eines Mietshauses. Die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren hat bei den neuen Größen Frankreichs gelernt: Olivier Nasti (Hotel Chambard in Kaysersberg), Éric Fréchon (Hotel Bristol, Paris) und Jean-Louis Nomicos („Nomicos“, Paris). Bis sie in der Kochshow „TopChef“ ins Finale kam und nur knapp unterlag – und das ist hierzulande die Garantie dafür, dass das eigene Restaurant ständig ausgebucht ist. So ist es auch im Signature. Und zwar zu Recht. Faulquiers Küche ist phänomenal.
Ihr berühmtestes Gericht ist ein Mosaik aus Gemüse der Saison, in unserem Fall Karotten und Rüben jeglicher Couleur, die wie ein Zauberwürfel daherkommen. Schön sieht das aus, und es macht sogar Sinn: Weil die Gemüse à point gegart sind und den Rahmen bilden für die Mousse im Inneren. Diese ist eher eine grobere Rillette mit hiesigen Fischzutaten, also Seeteufel und Seehecht. Die geeiste Aioli schmilzt dazu langsam vor sich hin und gibt immer mehr Schärfe frei, ein spannender Akkord, weil die Aromen je nach Temperatur der Sauce wechseln. Mittags herrscht im „Signature“ eine gelöste Stimmung, Jung und Alt kommen herein und erfreuen sich an dieser modernen, leichten Küche.
Köchin mit Leidenschaft
„Marseille ist sehr echt, sehr geradeheraus. So bin ich auch“, sagt Coline Faulquier, „ich will immer kochen, auch wenn ich einmal ganz alt bin – ich brauche die Küche, es ist meine Leidenschaft. Und wenn du in der Provence mit Herz arbeitest, dann wirst du Erfolg haben.“ Das Signature ist montags bis freitags geöffnet, Faulquier hat einen kleinen Sohn und war lange alleinerziehend, da ging das nicht anders. Aber so hat die ganze Brigade weiterhin am Wochenende frei, das ist auch eine Art, den Personalsorgen anderer Köche zu entgehen. In der Küche arbeiten drei junge Frauen, sie sind sehr schnell, ruhig im Ton und sehr präzise. Jeder Teller ist ein kleines Kunstwerk.
Die bunten gegarten Kartoffeln sind als Chips aromatisiert mit einem Kressepesto, dazu kommen würzige Bottarga (gesalzener, gepresster Rogen) und geflämmter Pulpo. Dabei spielt die Köchin erneut mit Kälte und Wärme, indem sie in süßer Milch ein Eis aus Kress schmelzen lässt – eine fantastische Kombination. Mit einem Augenzwinkern wird die modern interpretierte Zwiebelsuppe, dieser Klassiker traditioneller Brasserien, serviert: Eine Cevennen-Zwiebel, groß, mild und würzig, gefüllt mit confiertem Eigelb und schwarzem Knoblauch, dazu kommt lange gereifter Comté in einer würzigen Bouillon. Das schmeckt köstlich und zeigt, wie die Gemüse die Küche des Südens erobern – endlich.
Gemüse aus der Provence
Ein Paradebeispiel dafür ist auch das Eïdra, eine Stunde nördlich von Marseille in den Alpilles. Hier kocht Coline Leenhardt, die aus Neukaledonien stammt und mit zwei Jahren nach Frankreich kam. Ihr Restaurant trägt den Namen ihrer Ziehmutter aus dem Südpazifik. Das Eïdra führt sie mit ihrem Freund und Kompagnon Mathew Hegarty, Australier aus den Blue Mountains, ebenfalls ein „TopChef“-Kandidat – was unterstreicht, wie wichtig diese Sendung für Frankreichs Kochnachwuchs ist. Das Paar möbelte das alte Restaurant in der Pandemie auf und verwandelte den Betonparkplatz hinterm Haus in einen wunderschönen Garten.
Hier werden die Kräuter selbst gezogen, jedes Küchenprodukt kommt aus einem Umkreis von 40 Kilometern: Meeresfrüchte aus Port-Saint-Louis, Fische aus Le Graudu-Roi, Linsen, Kichererbsen und Mais aus der Provence, die Stiere für das berühmte Tatar aus der Camargue. Großen Spaß macht der wilde Spargel, den Coline und Mathew hier sammeln und mit Polenta und Apfelkügelchen zubereiten, genau wie die confierte Zwiebel mit Ziegenfrischkäse und gepulverten Kräutern. Diese zurückgenommene Gemüseküche ist die Antwort auf die mittelmäßigen Fleisch- und Fischorgien vergangener Tage – und sie findet in der Provence dank der Produktfrische immer mehr Anhänger.
Provence wie im Bilderbuch
Ein gutes Zeichen ist es, wenn große Köche den jungen Talenten folgen. Benoît Witz ist ein großer Koch, ohne Frage. Unweit von Haeberlin wuchs er im Elsass auf, seine Lehrmeister waren erst Bocuse in Lyon, dann war er jahrzehntelang Küchenchef bei Ducasse. „Von Monaco hatte ich aber irgendwann genug“, sagt der grauhaarige, aber jung gebliebene Mann lachend, der lässig in Jeansjacke über den Markt von Cotignac streift. Hier hat er sein neues Glück gefunden, gerade kauft er ein Haus. Benoît Witz ist gekommen, um zu bleiben: „Ich habe die wahren Dinge gesucht, die echten Produkte, kein Bling-Bling mehr, und hier hab ich das alles in Hülle und Fülle. Endlich kann ich durchatmen.“
Cotignac sieht aus wie der bilderbuchgewordene provenzalische Traum: Dienstags und freitags ist Markt, da stehen die Händler unter den Platanen in der Dorfmitte, vor den hübschen Häuschen mit den bunten Fensterläden. In den Bars sitzen sie und trinken den frischen Rosé der Domaine Mirabeau, die mit ihren Weinen schon fünfzig Länder erobert hat, hier im Ort ist die deutsch-britische Familie zu Hause. Nebenan verkaufen sie den Safran von Cabanon, der am Ortsrand blüht, auch das ist so eine Erfolgsgeschichte von visionärem Unternehmergeist dörflicher Art.
In der Provence speisen wie bei Oma
„Endlich wird in der Provence die Regionalküche neu gedacht“, sagt Koch Benoît Witz, „nicht nur in der Präsentation, sondern auch im Geschmack. Nach der Pandemie sind die Leute endlich nicht mehr nur virtuell zusammen, endlich können sie sich treffen und die wahren Dinge genießen, die guten Produkte.“ Dafür strömen sie nun ins Lou Calen, ein Hoteldörfchen, das jahrzehntelang leer stand und nun von einem kanadischen Investor neu belebt wird, mit Spa, Weinberg und sehr schönen großen Zimmern in provenzalischen Häusern. Diese liegen verstreut am Hang und bieten grandiose Blicke auf den großen Felsen von Cotignac und das alte Dorf.
An diesem Ort soll der Chefkoch keine kulinarischen Höhen erklimmen, sondern die Gäste glücklich machen, mit Gerichten wie an Großmutters großem Tisch. Dafür ist Witz genau der richtige Mann. Wenn ihm eine Idee kommt, rennt er während des Kochens schnell auf die Terrasse und pflückt Thai-Koriander und ein paar Kaffirlimettenblätter, mit denen er umgehend eine neue Geschmacksnote kreiert. Jeden Tag serviert er ein anderes Menü mit Entree, Plat und Dessert, je nach Marktlage.
Dinner wie bei guten Freunden
So kam Witz auch auf die Idee, nach der Filmvorlage einen „Pouple fiction“ zu erschaffen: ein Tintenfisch, gewickelt in Reisblätter mit leichter Gemüsejulienne. Grandios sind auch Seeteufel mit Marktgemüse und die lange gebackene Lammschulter, die wie der feine Sonntagsbraten an die Tafel kommt, die Qualität der montierten Sauce zeigt, was für ein großer Geist hier am Werk ist. Im Restaurant Jardin Secret, dem geheimen Garten, sitzen die Gäste an großen Holztischen oder in einem Separee mit Plattenspieler, die Musik kann selbst ausgesucht und aufgelegt werden. Es ist wie ein Diner bei guten Freunden. Witz serviert auch immer einen Nachschlag auf einem zweiten Teller: „Meine Gäste sind schließlich erwachsen, die wissen selbst, wann sie satt sind – und wenn es schmeckt, sollen sie ruhig nachnehmen können.“
Corniche auf dem Vormarsch
Der Kontrast könnte kaum größer sein, wenn die Reise danach wieder zurück in die Stadt führt, ins Hotel Le Petit Nice, an die felsige Küste der Corniche. Auch der alte Papst der Mittelmeerküche schaut zufrieden auf das, was gerade geschieht: „Marseille war eine reine Touristenfalle – und ich habe mein ganzes Kochleben dagegen angekämpft. Und endlich – jetzt bewegt sich etwas.“ Gérald Passedat ist immer noch ein Star in seinem Haus auf den Felsen unweit des Hafens, die grauen Haare, die klugen Augen, das Auftreten eines Mannes, der lange Zeit den Ton angab. „Die Pariser sind ein guter Seismograf. Früher kamen sie nie hierher, es war einfach nicht gut genug. Und jetzt reißen sie sich darum, eine Wohnung hier zu kaufen oder ihren Wochenendtrip hier zu verbringen – weil die Qualität endlich stimmt.“
Leichte Küche à la Provence
Als kleiner Junge hat er die Meeresfrüchte von den Felsen geklaubt, da hat er begriffen: Dieses Meer hat alles, was es braucht. Damals, als nur Steinbutt und Loup de Mer nobel waren. Aber Passedat fand heraus, dass auch Sardinen exquisit sein können, genau wie der Rascasse, der Drachenkopf, den alle nur in die Suppe warfen. Also hat er die Fische zu seinen Protagonisten gemacht, Butter und Sahne aus seiner Küche verbannt. „Ich bin nicht dazu da, die Körper meiner Gäste zu zerstören, ich will ihnen guttun“, sagt der Altmeister, „wer bei mir isst, muss sich um die Verdauung nicht sorgen.“
So ist der Abend vor der großen Glasfront über dem Meer eine leichte Angelegenheit – ob mit der „Feinen Windrose“ aus gereifter Rotbarbe mit Zwiebeln oder dem „Garten des Meeres“, voller Muscheln, Bulots (ausgelösten Meeresschnecken) und Wildkräutern. „Hier kommt kein Fisch auf Eis, wir servieren nur den Fang des Tages“, betont Passedat, „aber wir haben viel weniger Fische als früher, deshalb werden wir sie nach und nach durch Gemüse ersetzen, anders geht es nicht.“ Gérald Passedat bleibt der Philosoph unter Frankreichs Spitzenköchen. Seine Menüs sind durchkomponiert und machen das Mittelmeer zu einer komplexen Zone. Und auch zu einer kostbaren Angelegenheit: 515 Euro samt Weinbegleitung, das ist eine Ansage. Aber selten ist der Kritiker nach einem Zehn-Gänge-Menü so gut eingeschlafen und so leichtfüßig erwacht.
Rustikal mit Qualität
Kurz ist der Weg an den alten Hafen von Marseille: Hier hat der junge Jules Mollaret, aus Bordeaux kommend, jüngst das Coquille eröffnet, ein Bistro im Zeichen des Meeres, das mittags und abends aus allen Nähten platzt. Einheimische genießen hier mit purem Vergnügen, was die lokalen Fischer anlanden: „Früher war den Gästen vor allem das Ambiente wichtig, genau wie die kumpelhafte Ansprache des Wirts. Das Essen konnte ruhig mittelmäßig sein. Heute hat die Qualität absolute Priorität – und das finde ich eine sehr gute Entwicklung“, sagt Mollaret.
Die Jakobsmuschel serviert er zeitgemäß in dünne Scheiben geschnitten in der Schale, dazu gibt es eine Ponzu-Jus und Mandarinenfilets. Die Portion ist von herausragender Frische wie Qualität, und die Muschel schmeckt intensiv und geht nicht in Nebenzutaten unter. Exzellent sind auch die auf der Plancha gegrillten Fische. Die Karte entsteht erst, wenn der Fang des Tages abgeliefert worden ist. Serviert wird er ganz simpel, begleitet von Gemüsevariationen und einer Beurre blanc mit Zitrone, die alleine den Besuch wert ist. Nach diesem fantastischem Essen sind es nur wenige Minuten zu Fuß zum Bouleplatz drüben im Panier, zu einer kleinen Partie vorm Apéro. Ein Klischee, sicher, aber ein sehr schönes Klischee à la provençale.
Extra Tipps für die Provence
Lichtblicke
Leuchtende Landschaften
www.carrieres-lumieres.com
Die beste Bouillabaisse
Traumhaftes Zuhause
In der Provence dürfte es wenige Ferienhäuser geben, die so stilvoll eingerichtet sind wie dieses: In der Domaine Mirabeau, eine von Weinbergen umgebene alte Bastide nahe des Städtchens La Garde-Freinet, gibt es fünf Schlafzimmer, moderne Bäder, einen Salon mit Kamin und Bibliothek sowie eine Terrasse, die aus einem Provence-Liebesfilm stammen könnte. Der Kühlschrank ist mit Wein und Gin aus eigenem Anbau gefüllt. Wer hier ankommt, braucht zwei Wochen lang das Haus eigentlich nicht mehr zu verlassen.
Grill de luxe
Hinter der Düne einer türkisfarbenen Sichelbucht bauen sie jeden Frühling eines der beliebtesten Restaurants der Provence in den Pinienwald: Das L’Estagnol in Bormes-les-Mimosas wird von der Familie Cruché betrieben – so simpel wie fantastique. Unter den gelben Sonnenschirmen servieren sie Steaks und Fische vom Holzkohlegrill, die unglaublich dichte Bouillabaisse oder ihre Spezialität: riesige Langusten auf Spaghetti. Dazu gehört natürlich eine eiskalte Flasche Rosé.
Das blaue Wunder
Der älteste Boule-Produzent der Welt: Seit 1904 stellt die Familie Rofritsch unter dem Markennamen La Boule Blue in Marseille Kugeln unterschiedlicher Farben und Gewichte her, die von Sammlern in aller Welt geschätzt werden. Die blaue
Färbung ihrer berühmtesten Kugel rührt von der Legierung aus schwedischem Kohlenstoffstahl. Unweit des Hafens von Marseille gibt es ein kleines Museum, das dem Traditionssport gewidmet ist, der hier nur Pétanque heißt.