James Lowe im Porträt | DER FEINSCHMECKER

James Lowe im Porträt: Modern British Cuisine

Im Londoner Viertel Shoreditch kocht James Lowe im Lyle’s so heimatverbunden wie kosmopolitisch – mit besten britischen Zutaten der Saison und Techniken aus aller Herren Ländern. Entspannt verbindet er dabei kulinarische Fantasie mit Umweltbewusstsein.
Datum25.07.2022

Was bedeutet Modern British Cuisine für James Lowe?

Modern British Food bedeutet für James Lowe, heimische Zutaten der Saison mit­hilfe von Kochtechniken aus aller Welt neu zu kombinieren. Handwerk aus den Küchen Portugals, Japans, Italiens führt so je nach Jahreszeit zu animierend leichten oder herzhaft reichhaltigen Gerichten. Damit begreift James Lowe die Arbeit in seinem Lyle’s eher als modern London cuisine, während beim British Food in Fergus Hendersons St. John eher Traditionen gepflegt werden. Als Missionar sieht er sich gar nicht. „Ich bin kein Küchenkünstler“, sagt Lowe britisch-rational, „ich bin und bleibe Koch.“

Steckbrief James Lowe

James Lowe steht am Tresen und hält ein Brot in der Hand

Name: James Lowe

Alter: geboren 1980

Hobbys: Skilaufen, Klettern

Familie: Liiert, eine Tochter

Stationen: Nach dem Studium der Umweltwissenschaften kellnerte Lowe im damaligen Londoner The Wapping Project, um die Wartezeit für eine Pilotenausbildung zu überbrücken. Fasziniert von der Leidenschaft der Köche sowie von Besuchen in Heston Blumenthals The Fat Duck und Fergus Hendersons St. John, entschied er sich für eine Ausbildung zum Koch im La Trompette in Chiswick; es folgten Stationen im The Fat Duck, St John Bread & Wine und The River Café. Mit Isaac McHale (Clove Club) gründete er 2010 das „Young Turks Collective“, eine Vereinigung junger Köche, die mit Pop-ups in London englisches fine dining gut, günstig und entspannt präsentieren wollten.

Das Restaurant: Im April 2014 eröffnete Lowe mit dem Geschäftspartner John Ogier das Lyle’s im Tea Building, einem imposanten Backsteinbau in Shoreditch: Windsor-Stühle an schlicht eingedeckten Holztischen auf Betonboden hinter hohen
Fenstern im Townhouse-Stil sowie Fabrikdesign mit Industrielampen und Weinregalen aus britischem Walnuss- und Eichenholz. Es gibt eine täglich wechselnde regional-saisonale Mittagskarte sowie abends ein festgelegtes Vier- bis Fünf-Gänge-Menü.

Plätze: 48 plus sechs an der Bar

Mitarbeiter: 21

Lyle’s 
OT Shoreditch Tea Building
56 Shoreditch High Street
London E1 6JJ 
Tel. 0044-20 30 11 59 11
www.lyleslondon.com 
So geschl., mittags Hauptgerichte € 10-29, abends Menüs (4 oder 5 Gänge) € 66-76

Wie kam James Lowe zum Kochen?

In Brighton in eine Familie und eine Zeit geboren, in denen Mahlzeiten mehr Nahrungsaufnahme als Genuss bedeuteten, entdeckte James Lowe selbstständig das Thema Essen: „Ich habe es gehasst, wenn wir mit dem Tablett vor den Fernseher gesetzt wurden – und geliebt, wenn wir doch mal gemeinsam am Tisch aßen.“

Mit 18 Jahren verließ James Lowe das Zuhause. Beim Studium der Umweltwissenschaften in Vancouver begann er, für Kommilitonen zu kochen, ließ sich von den dort authentisch portugiesischen, japanischen und chinesischen Restaurants inspirieren. James Lowe reiste früh und viel, gab Geld für gutes Essen aus. In Kopenhagen sah er im damals neuen Noma, was alles mit unterschätzten lokalen Zutaten möglich ist.

Heute arbeiten James Lowe und alle in seinem Team trotz sechs Tagen Öffnungszeit nur vier Tage pro Woche, damit sie nach wie vor selbst viel essen gehen können. Reicht die Zeit trotzdem nicht zum Reisen, holt er interessante Köche eben zu sich nach London: Bei den Guest Series- und Game-Events kocht er gemeinsam mit Kollegen wie Fredrik Berselius (Aska, New York), Bertrand Grébaut (Septime, Paris) und James Shyabout (Commis, Oakland) oder geht mit ihnen auf die Jagd – für beide Seiten eine anregende Erfahrung.

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Wie sieht ein Gericht von James Lowe aus?

James Lowes Teller spiegeln bedingungslos das Vorhandene, scheinen trügerisch simpel, sind dennoch perfekt durchdacht und klar komponiert. Für die Vorspeise aus Roten Beten, Walnüssen und Rind wird allein schon das Gemüse gekocht, getrocknet, in Rote-Bete-Saft mariniert und schließlich über Buchenholz zur Perfektion geräuchert.

Für Hauptgänge wie Aal mit Meerrettich, Stockente mit Selleriesaft oder Hammel greift Lowe zu fast vergessenen Produkten und interpretiert sie neu. „Warum“, fragt Spitzenkoch James Lowe, „soll ich Garnelen aus Frankreich bestellen, wenn Aroma und Frische auf dem Weg zu uns halb verloren gehen und es genug heimische Ware gibt, mit der wir dazu noch Emissionen einsparen?“ Das entspreche doch schlicht dem gesundem Menschenverstand, „und wenn ich gucke, was meine Lieferanten an diesem Tag zu bieten haben, schreibt sich das Menü auch von selbst“.

Trends als Selbstzweck kann Lowe nicht ausstehen: „Nose-to-tail ist zur Marketingfloskel geworden, die viele Köche von der eigentlich guten Idee weggeführt hat.“ Und farm-to-table? „Total bescheuert, woher soll das Essen denn sonst kommen?“

Welche Produkte verwendet James Lowe beim Kochen?

James Lowe verarbeitet, was die heimischen Küsten, Felder und Farmen dem Koch und seinen Gästen zu bieten haben. Je nach Saison zum Beispiel Rochen, Steinbutt, Tintenfisch, Aal, Schwert-, Herz- und Jakobsmuscheln, Spargel, Rhabarber, Beeren, Steinobst, Honig, Erbsen, Kürbis, Kohl, Liebstöckel, Kapuzinerkresse, Sauerampfer, Käse, Perlhuhn, Hammel, Hereford-Rind …

James Lowe sagt: „Das Gute an der Insel ist, dass es hier alle Jahreszeiten und ihre Produkte gibt, die Böden im Winter aber nicht gefrieren.“ Seinen Gästen bleibt nichts anderes übrig, als auch mal ungewohnte Produkte zu probieren: Standardspeisen zum Ausweichen oder eine Wahl beim Abendmenü gibt es nicht. Auch keine Pseudo-Saisongerichte wie das Stück Fleisch, das je nach Jahreszeit mal mit Salat oder warmem Gemüse serviert wird. „Ich mache im Winter auch kein Eis aus irgendwas zu einem Gericht“, sagt Lowe: „Da ist es draußen kalt!“

Welche Werte vertritt Koch James Lowe?

Das Wichtigste sei, sagt James Lowe, die Produzenten und ihre Arbeit zu kennen und zu verstehen. Er sieht sich als Abnehmer der Ware, nicht als Bestimmer, der unerfüllbare Wünsche diktiert: „Den Respekt, den man damit zeigt, bekommt man in Form von Qualität zurück.“ Wenn der Pilzhändler mit 15 Kilo Ware ankomme, von der eigentlich fünf schon genug wären, kaufe er dennoch alles und arbeite eben zwei Tage hauptsächlich mit Pilzen: „So bietet er nicht das nächste Mal die besseren zehn Kilo einem anderen Koch an.“

Obst und Kräuter werden einmal pro Woche selbst gesammelt, Qualität und Menge der Rinder an der Grenze zu Wales, des nachhaltig gefangenen Fisches in Cornwall, des Gemüses der OrganicLea-Gemeinschaft regelmäßig geprüft und besprochen. „Und wir schmeißen garantiert nichts weg“, sagt James Lowe – selbst wenn diese Zero-Waste-Philosophie bedeutet, dass er auch noch aus den Blättern der Süßkartoffel ein sinnvolles Gericht machen muss.

Wie wichtig sind James Lowe Auszeichnungen für sein Restaurant?

Ihr wirtschaftlicher Nutzen ist ihm inzwischen bewusst. Angestrebt hat James Lowe die Auszeichnungen, die er für sein Restaurant Lyle's bekommen hat, dennoch nicht: „Ich finde es wichtiger, Meilensteine wie ein Jubiläum zu erreichen“, sagt Lowe, „die Foodies anzusprechen, die Branchenkenner, die regelmäßig hier zum Essen kommen.“

Welche Konventionen bei Design und Präsentation zum Beispiel ein Michelin-Stern erfordere, gehe ihm gegen den Strich: „Das hat mit Restaurants nichts mehr zu tun. Ich will sehen, dass meine Leute lieben, was sie tun, ihre Leidenschaft spüren, nicht ihren Ehrgeiz.“ So bietet das Lyle’s entspannte Atmosphäre, einen Service, der natürlich bleibt und nicht über jedes einzelne Element auf dem Teller philosophiert, sowie bezahlbare Gerichte, die Gefühle wecken. „Wir wollen zu den Orten gehören, die man in London kennen muss“, sagt James Lowe, „das ist die höchste Anerkennung.“

James Lowe und sein Team im Londoner Restaurant Lyle's

James Lowes Restaurants Lyle's und Flor in London

Was unterscheidet Lowes zweites Restaurant Flor, das er am Borough Market eröffnet hat, vom Lyle’s? „Das Lyle’s", sagt James Lowe, „arbeitet mit dem Besten, was zur jeweiligen Zeit in England zu haben ist, das Flor mit dem, was ich an dem Tag in London rund um diesen Markt kriege.“ Französisches Gebäck trifft auf britisches Sauerteigbrot, Languste auf Felsenaustern von Jersey und Burrata auf Grünkohlsalat: eine Mischung wie die der Kulturen in London.

Davon abgesehen, hält James Lowe es beim um die Hälfte kleineren „Weinbar, Bäckerei und Restaurant“ genannten Flor wie bei seinem Erstling: Fenster im Townhouse-Stil, schlichtes Design mit Holz, unverputzten Ziegeln und Betonböden und produce-to-chef-Philosophie: „Ich schaue erst, wie das Angebot des Tages aussieht, und entscheide dann, was ich daraus mache.“ Das garantiere zero waste – und besseres Essen, weil die Köche ihr Gehirn jeden Tag neu anstrengen müssen. Er finde es arrogant, sagt James Lowe, jemals zu glauben, ein Gericht sei so gut, dass es keiner Entwicklung mehr bedürfe: „Die Welt ändert sich, und Menschen ändern sich. So ändern sich auch das Essen und der Umgang damit.“

Tipps von James Lowe

The River Café

OT Hammersmith, Thames Wharf
Rainville Rd
Tel. 0044-20 73 86 42 00
www.rivercafe.co.uk
kein Ruhetag, Hauptgerichte € 23-49
„Ein wunderbares Restaurant, das mich schon meine ganze Karriere lang inspiriert. Es bietet fantastische Produkte, großartige Atmosphäre und wunderbare Menschen.”

Rochelle Canteen

OT Shoreditch
16 Playground Gardens
Tel. 0044-20 77 29 56 77 
www.arnoldandhenderson.com
kein Ruhetag, wechselnde Preise
„Das ist mein Lieblingsplatz in der Nachbarschaft, da esse ich öfter als in jedem anderen Restaurant. Es symbolisiert Ost-London, das Menü wechselt täglich, die Gerichte sind immer verständlich und gut.“

Brawn

OT Bethnal Green 
49 Columbia Road
Tel. 0044-207 29 56 92
www.brawn.co
So geschl., Hauptgerichte € 16-29
„Die beste Weinkarte Londons – der Laden gehört einem ehemaligen Weinhändler. So tief und ausgesucht bekommt man das selten – und dazu auch noch fair kalkuliert. Auch das Essen ist nicht zu überdreht und kontinuierlich gut.”

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