Koch des Monats – Mauro Uliassi

Was ist ein „Menu Lab“?
So nennt Mauro Uliassi sein jährlich wechselndes 10-Gänge-Menü aus seinem „Labor“. Dafür wird wochenlang mit lokalen Zutaten Neues ausprobiert, „um das noch Unentdeckte im Bekannten aufzuspüren“, wie er sagt, „und um prägnante Geschmacksakzente zu setzen, die sich durch das ganze Menü ziehen.“
Zum Beispiel Bitternoten aus der Bergamotte, der Zichorie, dem Meeräschenrogen oder gegrillten Oliven. Es sind nicht die ängstlichen Esser, die sich auf diese aufregende „Lab“-Reise wagen, für die gibt es ein Klassiker-Menü und eine À-la-carte-Auswahl. Aber wer auf den Zug aufspringt, gewinnt ganz neue Erfahrungen: Da wäre „Das Innere des Meeres“, ein weich-warmes, intensiv nach Meer schmeckendes und zu löffelndes Gericht aus Fischinnereien:
- Kutteln vom Klippfisch,
- Herz des Steinbutts
- und Leber des Tintenfisches.
„Ich verlange von den Fischern, dass sie mir alles mitbringen, auch die Innereien ihres Fangs, die sonst über Bord gehen würden“, sagt der Chef, der morgens an seiner Küchentür die pescatori (Fischer) der Adria begrüßt. Da wäre aber auch die Niere vom Schaf, von einer Seite gebraten, von der anderen roh – an sich schon ein starkes Stück an Geschmack und dazu noch kraftvoll begleitet von eingekochter Orange mit Schale, Zimtöl und Trockenfrüchten. „Eigentlich ein Renaissance-Gericht“, erklärt Mauro, „weil es an die Art zu würzen jener Zeit erinnert.“



Von links nach rechts:
Auster im Salzbett, bekommt Würze vom Fett einer frischen Salami
Schwarze Minestrone, mit Tinte vom Pulpo, Herzmuscheln und Tamarinde
Ossobuco Marinara aus Stockfischkutteln, Mark vom Kalbsknochen und Vongole-Sud
Meer und Berge: Für die Küche ein Spagat?
„Die ‚Cucina Mare Monti‘ ist keine Erfindung eines Avantgarde-Kochs“, sagt Mauro Uliassi. Sie sei vielmehr aus dem entstanden, was die Küstenbewohner hier schon immer vorfanden: einerseits Oliven, Kräuter, Gemüse, Obst und Hühner im Garten und drum herum Weiden für das Vieh, andererseits das Meer, direkt angrenzend. Das kann jeder sehen, der heute die Autostrada A 14 entlangbraust.
An ihrer Stelle gab es einst im Mündungsgebiet des Flusses Misa sumpfiges Gelände, wo die Bauern, die zugleich Fischer waren, Schnecken, Aale und Frösche fingen. Der Erfindungsreichtum gerade der armen Bevölkerung hat die italienische Küche zu dem gemacht, was sie heute ist: Aus wenig etwas Großartiges zaubern, damit erlangte sie Weltruhm.
So hat man hier früher beispielsweise aus Sardinen und Milch eine Art Käse gekocht, das Ganze hart werden lassen und dann wie Parmesan über die Pasta gerieben – aus den gleichen Zutaten entstand auch eine Gewürzbutter. Beides bei Mauro Uliassi nachzuschmecken in der Pasta mit Timut-Pfeffer. Und eine simple rote Paprikaschote vom Holzkohlengrill ist saftig, süß, rauchig und vom Mundgefühl her fast wie Fleisch: köstlich. Reich – und bescheiden.

Liegt das Kochen in der Familie Uliassi?
Dieser Küchenchef, der heute Austern mit dem Fett einer frischen lokalen Salami zartfühlend aromatisiert und Ossobuco-Markknochen in Vongole-Brühe gart, um daraus mit Zitrone und Petersilie die gelatinöse Sauce zu Stockfisch-Kutteln zuzubereiten, muss doch ein gastronomisches Gen haben? „Auf jeden Fall!“, auch wenn er selbst sich als Spätzünder bezeichnet.
Seine Großeltern mütterlicherseits hatten eine beliebte Osteria in Senigallia. Das Lokal von nonna und nonno war bis weit in die Nachkriegszeit berühmt – ein Ort, an dem besonders viele Lastwagen vor der Tür parkten, weil die Fahrer das gute Essen dort schätzten.
Lkws waren damals ein neuer Wirtschaftszweig, sie fuhren landauf, landab den ganzen Tag Ware durch die Gegend, Zitronen in den Norden, Autoersatzteile in den Süden, die Fahrer kannten alle guten Lokale an ihren Routen.
Schon als Foodie auf die Welt gekommen, Mauro?
„Eher nicht, ich war sehr zum Kummer der mamma ein dürres Bengelchen. Heute ist mir klar, dass sich mit der Pubertät, also mit der sexuellen Neugier, auch der Geschmack entwickelt und die Lust auf gutes Essen wächst“, sagt Mauro und muss laut lachen.

Mit 17 will er nach Nepal. Und wird dennoch Koch?
Der Vater zieht ihm die Ohren lang, von wegen Nepal! Mauro versucht sich an einer technisch ausgerichteten Oberschule: Uninspirierend, um ihn herum nur Jungs, keine einzige ragazza. Also Schulabbruch, Jobs als Barmann in den Discos und Strandbars mit herrlich unkontrollierbaren Arbeitszeiten – und die erste finanzielle Unabhängigkeit von zu Hause.
Wieder greift der Vater ein und überzeugt ihn, die Hotelfachschule in Senigallia zu besuchen. Dann der Ernst des Lebens: Seine ersten Anstellungen als junger Koch aber waren ernüchternd: 16 Stunden Arbeit am Tag! Er will hinschmeißen. Da offeriert ihm sein Chef eines späten Abends nach dem Service ein Glas Dom Pérignon und provoziert den müden Jungkoch mit der Frage: „Bist du ein Backstein von der Sorte mit Löchern drin? Oder ein richtig schöner kompakter mattone?“
Das hat gesessen. Mauro beschließt, durchzuhalten. Er kehrt an die Hotelfachschule zurück, wo er ein „ordentliches Diplom“ macht und mit 22 Lehrer wird: Professore Uliassi, mit 3000 Lire im Monat! Aber auch eine Schönheit namens Chantal galt es ja zu beeindrucken ...

Wer ist Chantal?
„Ein wunderschönes Mädchen, ich war schockverliebt. Zu ihrem Geburtstag habe ich für sie und ihre 20 Freunde gekocht. Mein Vorbild war der Film ‚Babettes Fest‘. Diese Leidenschaft, dieser enorme Aufwand, ich habe mich richtig ins Zeug gelegt. Ich wollte Chantal gefallen. Heute weiß ich: Du kochst besonders gut, wenn du verliebt bist!“
Mauro war stolz auf sich. Und er erkannte zum ersten Mal, wie viel Macht und Befriedigung es einem gibt, Menschen mit sehr gutem Essen glücklich zu machen. Man ahnt es schon: Chantal wurde Mauros Ehefrau und Mauro über die Jahrzehnte schließlich einer von Italiens Allerbesten am Herd, der heute immer noch staunt und sagt: „2000 gab’s den ersten Michelin-Stern, 2009 den zweiten. Unfassbar: 2018, mit ergrauten 60 Jahren, habe ich dann auch noch den dritten bekommen, das war toll! In dem Alter ist man ja eigentlich schon längst beim alten Eisen in diesem Beruf.“
Durch die offenen Fenster hört man sommerlich sanfte Wellen an den Strand schwappen. Die Stimmung: ein bisschen Strandhaus in den Hamptons, ein bisschen Südeuropa. Als wäre das alles ein Hopper-Gemälde. Aber ein Bild ohne abgründige Unterströmungen, sondern durch und durch heiter.