Sautanz bei Max Stiegl: Nose-to-Tail in Gut Purbach

Das Schwein bleibt namenslos, obwohl es an diesem Tag der Hauptdarsteller ist: eine Sau von eineinhalb Jahren vom Bauern aus der Nachbarschaft, rund 120 Kilo schwer. Für das legendäre Schlachtfest „Sautanz“ des Kochs Max Stiegl im österreichischen Purbach wurde sie unter mehreren Kandidaten ausgewählt, da sie das nötige Gewicht auf die Waage brachte. Auf dem Bauernhof führte das Tier, eine Kreuzung aus Mangalitza und Duroc, in offenen Ställen ein gutes, ein artgerechtes Leben. In der Früh hatte es der Bauer auf seinem Hof mit einem Schuss betäubt und ihm dann so schnell wie möglich die Kehle durchgeschnitten. Mit angesehen haben das nur der Bauer mit Helfern, Max Stiegl und ich. Stiegl kniete neben dem Schwein, fing das Blut in einem Eimer auf und rührte es unablässig mit einem Schneebesen durch, „damit’s nicht gerinnt“. Blut ist wertvoll, „wichtig beim Kochen, weil es gut bindet“, erklärte er. „Und es schmeckt wunderbar!“ Das Schwein sei gut verstorben, sagt Stiegl, ohne dass es hat leiden müssen oder Stress empfunden hat. Nur deshalb kann es sofort für das Schlachtfest verarbeitet werden und muss nicht mehr abhängen. „Das Tierwohl muss der Koch hoch achten, denn nur dann kann er guten Geschmack erwarten“, erklärt Stiegl. Und es geht beim Sautanz um Respekt vor dem Tier und Nachhaltigkeit: Das Schwein wird im Ganzen verarbeitet und genutzt. Stiegl würdigt die Qualität von Innereien und den vermeintlich unedlen Teilen eines Schweins wie Schnauze und Ohren und wertet sie mit neuen Rezepten auf. Helfer haben das Schwein mit Traktor und Transportwagen zum Gut Purbach gebracht, es ist ein Restaurant mit Hotelzimmern und Wirtschaftsgebäuden um einen großen Hof gruppiert, etwa 65 Kilometer südlich von Wien. Schon morgens um acht stapfen Dutzende Menschen über den Hof – Serviceangestellte, die ersten Gäste, vor allem aber Freunde. „Ich brauche Freunde für so ein Schlachtfest“, sagt Stiegl, „ohne schafft man das nicht.“ Bis zum späten Abend hat Stiegl sie hier versammelt, Menschen, die zupacken und schwer heben, die rühren und grillen, Weinflaschen entkorken und Pfannen, Töpfe und Weckgläser herbeitragen. „Sautanz“ ist Teamwork.

Respekt, Tierwohl und Nachhaltigkeit
Zu Beginn des Festes, nach dem Entfernen der Borsten, hängen vier, fünf Männer mit viel Geächze das Schwein kopfüber an ein Holzgestell. Jetzt sind Fachleute gefragt – wie Michael Andert, von Beruf Winzer, aber auf einem Bauernhof aufgewachsen. Er öffnet mit einem Schnitt den Bauch des Schweins, dessen Innereien nun offenliegen. Beginn der Lehrstunde: Max Stiegl, mit Lederschürze, Mütze und Headset, zeigt auf das Tier und fragt: „Wer kennt sich aus? Was liegt wo?“ Keine Sorge – bei Stiegls Sautanz gibt es immer Kenner, die Bescheid wissen: Fleischer, Jäger, Ärzte. „Da oben ist das Herz, das Längliche ist die Lunge, da ist die Milz und unten sind die Nieren“, sagt Richard, ein Metzger aus der Nachbarschaft. Max Stiegl ist in seinem Element, schneidet behände das Herz aus dem Körper, bringt es zum Hackbrett, schneidet einige Scheiben ab. „Das Beste der Innereien, ein fester Muskel, lecker und aromatisch. Wer will probieren?“ Stiegl hält die rohen Scheiben auf einem Teller den Gästen vor die Nase wie Petits Fours auf dem Silbertablett. Gern greifen die Gäste zu, das Fleisch schmeckt einem Rückenfilet sehr ähnlich. Nur eine junge Frau weicht zurück. Stiegl ist entrüstet. „So, aber rohen Thunfisch als Sashimi esst ihr!“ Dabei sei ein Herz doch etwas Wunderbares. „Man sollte es immer medium garen wie ein Steak“, empfiehlt der Chef. „Wir kochen es klassisch mit Rahm und dazu Sterz (eine Mehlspeise). Herz mit Sterz!“

Lehrstunde am Tier: Innereien verstehen und verwerten
Und so geht es weiter: Das Schwein gibt die Dramaturgie vor. Hirn, Lunge, Nieren, Leber. Anschauen, lernen – auch, Widerwillen und Ekel zu überwinden. Hunderte Jahre Zivilisation haben uns sowohl den Anblick wie auch den Geschmack von Innereien ausgetrieben, sie versteckt in Brat- und Kochwurst, bei denen wir oft nicht genau wissen, was eigentlich drinsteckt. Schweinerücken, Speck und Schinken essen wir und manchmal noch die Schulter. Früher aber haben Landwirte alles verwertet. Ein Schwein, sagt Stiegl, war die Lebensversicherung des Bauern, sein Vorrat auf vier Beinen. „Ein Schlachtfest im Winter war überlebenswichtig.“ Einmal im Jahr, im Winter, wurde geschlachtet, dazu wurde gefeiert mit Bier und Wein und Tanzmusik. Ein Freudenfest für alle, so wurde die Tradition des Sautanzes geboren, den es über Jahrhunderte gab. Stiegl hat ihn nicht neu erfunden, nur wiederbelebt. „Den Kopf mit Rüssel wegzuwerfen, die Ohren und den Ringelschwanz, das konnte sich niemand leisten“, erklärt Stiegl. „Und heute zeige ich, dass du aus allem was machen kannst.“

16 Gänge vom Feuer: vom Hirn bis zum Kotelett
16 Gänge serviert Stiegl im Lauf des Tages, inklusive Süßigkeiten wie Krapfen, in Schmalz gebacken, oder „Scheiterhaufen“ (eine Art Kaiserschmarren) mit Eierlikör. Gegart wird überwiegend draußen über offenem Feuer in Eisentonnen, auf Schwenkgrills und Feuerplatten, aber auch drinnen in Stiegls Restaurant. Etwa 150 Gäste sind zum Sautanz zusammengekommen. Sitzplätze gibt es nicht, man geht von Feuerstelle zu Feuerstelle, holt sich einen Teller mit frisch Gegartem, stellt sich am Stehtisch zu den anderen. Rasch bildet sich eine Gruppe von Eingeschworenen – wer gerade aufgegessen hat, holt eine Weinflasche von einem der Tresen, wo sie aufgereiht stehen, oder aus einer der Zinkwannen mit Eiswasser, der Preis ist inklusive. Auch wer hier niemanden kennt, kommt schnell ins Gespräch: Alex ist Redakteur einer Food-Fachzeitschrift, sein Freund Jürgen hat einen Fahrradladen in Rust, Tanja und Silvia sind Ärztinnen aus Wien, sie waren schon im letzten Jahr dabei. „Toll hier“, finden sie, „das beste Event des Jahres!“ Warum? „Weil’s cool ist. Wir lernen viel dazu. Und die Gerichte schmecken klasse.“ Stiegl verteilt nun gebackenes Hirn mit Ei, gewürzt mit Majoran. „Schmeckt schön sahnig“, findet Tanja, „Hirn isst man auch nicht alle Tage.“ Dasselbe gilt natürlich für auch für die Schweineleber mit Speck, Zwiebeln und schwarzen Linsen – Stiegl: „Alles ist vom Schwein, außer den Linsen“ – die gekochte Zunge, die saure Lunge mit Wurzelgemüse, die gesottenen Schweineschnauzen, von Stiegl scherzhaft-liebevoll Steckdosen genannt. Zu seinen Gerichten hat sich Stiegl jeweils passende Zubereitungen überlegt, die den Eigengeschmack der Innereien oder Fleischstücke verstärken – etwa Salsa verde mit reichlich Liebstöckel und Kirschessig zum gegrillten Kotelett, Essiggurken und Sardellenpaste zum Beuschel aus Lunge und Herz. Die Gerichte schmecken cremig, saftig, kräuterig, in sich stimmig, oft mit ungewohnter Konsistenz, aber nichts stört darin. Ein schweinischer Wohlgeschmack.

Teamwork, Gemeinschaft – und Tradition
Die Szenerie wirkt am späteren Nachmittag zunehmend archaisch: Von der Bühne animiert ein DJ zum Tanzen, es dröhnen dumpfe Basstrommeln. Im Hof ziehen Rauchschwaden von Grill zu Grill, überall züngeln Flammen in kleinen und großen Feuerstellen. Dahinter rührt ein Mann mit langem Stab in einer kniehohen Eisentonne Grammeln, Speckstückchen, die im Fett schwimmen. „Wie lange dauert’s noch?“ – „Zwei Stunden etwa.“ Rohes Fleisch, Fett und Knochen ruhen auf Schneidebrettern, in Schüsseln liegen Sellerieknollen, Wurzeln, Kräuter. Dazwischen drängen sich die Gäste, Wollmützen auf dem Kopf, Bierflaschen oder Weingläser in der Hand. Es wird gelacht, gejohlt, gerufen. So ähnlich haben wahrscheinlich schon unsere Vorfahren gefeiert, vor tausend und mehr Jahren.
Stiegl befeuert das Fest mit Sätzen, deren unfreiwillige Komik er mit spitzbübischem Grinsen und Augenzwinkern durch die auffällige Hornbrille genießt. Sätze wie „Rechnen Sie mit einem Hirn pro Person. Ich hab noch ein bisschen Hirn!“ Je weiter der Abend voranschreitet, desto weniger bleibt vom Schwein übrig. Kurz vor Mitternacht sind nur noch die Borsten in der Wanne zu sehen, etwas Darm und einige Knochen. Sogar die Hufklauen werden aufbewahrt, Stiegl füllt Obstler in sie hinein wie in Fingerhüte. Man steckt sie ein, als Andenken. Der Höhepunkt des Sautanzes sind die Koteletts, über die frischer Meerrettich geraspelt wird, und kross gegrillter Schweinebauch mit Sauerkraut, Röstkartoffeln und Ajvar (Paprika-Auberginen-Dip). Den Schluss der, ähem, Sause bilden die ausgelassenen Grammeln, die ein bisschen wie Popcorn schmecken, und die saftigen Krapfen aus der Schmalzpfanne. Reichlich Schnaps wird ausgeschenkt. Ein ungarischer Geiger spielt „Kalinka“, die Gäste klatschen im Takt. „Der Sautanz ist demokratisch“, sagt Stiegl, „Leute mit hohem und mit niedrigem Einkommen stehen eng beieinander, ein Gemeinschaftsgefühl!“

Die Fotos von Luzia Ellert stammen aus dem Buch „Sautanz“, Servus Verlag, 256 S., € 30

