Bayerische Küche: Regionalküche in neuem Gewand
Das neue Zeitalter der Tradition
Nose to Tail
Der 42-Jährige steht prototypisch für eine Generation bayerischer Gastronomen, die derzeit die Küche ihrer Heimat ganz neu aufstellen, nicht selten wie in Pleiskirchen hinter historischen Mauern. Und dabei zeigen, wie nah sich Traditionelles und zeitgemäßer Nova-Regio-Stil sind: „Nose to tail hat in Bayern lange Tradition“, sagt Huber und verweist auf die nach wie vor gepflegte Innereienküche. Das Rezept für sein Kalbslüngerl stammt von der Oma, nur dass er statt ihrer dunklen eine helle Einbrenne anrührt: „Das ist bekömmlicher.“ Als er 2005 zurück nach Hause kam, knirschte es zunächst etwas im Gebälk. Er erinnert sich daran, wie er zwei Wochen lang mit seinem Vater stritt, weil er das Sonnenblumenöl im Hausklassiker Beef Tatar durch Olivenöl ersetzen wollte.
Doch der Junior überzeugte nicht nur die eigene Familie, sondern auch Gäste und Kritiker mit seinem gekonnten Spagat zwischen Bodenständigkeit und Weltoffenheit – weil er die Tradition achtet und aus ihr die Inspiration für seine bayerische Küche 2.0 bezieht. Zum Beispiel fürs „Zockerbrot“: „Früher servierten meine Eltern den Kartenspielern am Stammtisch zu später Stunde noch belegte Brote mit Meerrettich und kalt aufgeschnittenem Schweinsbraten vom Vortag.“ Der Sohn machte daraus eine hochästhetische Vorspeise: Die aufgeschnittene Haxe der heimischen Wollsau klemmt er mit Radieserl zwischen zwei hauchdünne Brotchips, reibt Meerrettich und gebeiztes Eigelb darüber und serviert dazu zwei Saucen, eine knallgrüne mit Schnittlauch und eine orangefarbene aus der Bratenjus mit reduziertem Dunkelbier und geröstetem Tomatenmark.
Gute Grundprodukte gibt es reichlich
Hubers Zockerbrot ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich regionale Klassiker in moderne, gourmettaugliche Gerichte verwandeln. Bayern mit seiner reichen kulinarischen Tradition, die Einflüsse aus Frankreich (Böfflamot) und Böhmen (Knödel) aufweist, bietet dafür jede Menge Spielmaterial. In dem landwirtschaftlich geprägten Bundesland herrscht zudem kein Mangel an engagierten Produzenten, die aus ihren Erzeugnissen mittels zeitgemäßer Methodik Delikatessen made in Bavaria machen. Vorreiter wie Franz Riederer mit seinem Poltinger Lamm oder Fischzüchter Nikolai Birnbaum im Lechtal beliefern Spitzenrestaurants bundesweit. Beim anhaltenden Trend zu Süßwasserfischen spielte das Voralpenland mit seinem reinen Quellwasser und weitverzweigten Bachläufen eine Pionierrolle.
Neue Punkte auf der Gourmet-Landkarte
Urban Gardening auf Bayerisch
Neue Vielfalt der bayerischen Küche
Als deutlichstes Zeichen für die neue Vielfalt der bayerischen Küche setzen seit einiger Zeit junge Küchenchefs mit besten Referenzen Orte, wo bisher allenfalls Schweinsbraten und Kässpatzen zu haben waren, auf die gastronomische Deutschlandkarte. Zum Beispiel Finning bei Landsberg am Lech, wo Dominik Schmid, der auf Stationen bei Sergio Herman, Joachim Wissler und Tohru Nakamura verweisen kann, im Staudenwirt neben klassischer Gasthausküche ein ambitioniertes Gourmetprogramm bietet. Feinschmecker im Kreis Rosenheim freuen sich schon auf die für den Sommer geplante Eröffnung der „Frasdorfer Hütte“, wo Max Müller, zurück aus dem Berliner Nobelhart & Schmutzig mit regionalen Zutaten und über offenem Feuer kochen wird. Und in Burghausen an der österreichischen Grenze schickt Dominik Lobentanzer im 271 sein „Kalb hoch 2“ (Rücken und Bries) nicht ohne einen flaumigen Quarkknödel an den Tisch: „Eine Kindheitserinnerung, aber mit den Mitteln der Gourmetküche zubereitet.“
Naturerlebnisse verändern das Kochen
Der 33-Jährige, den Andreas Döllerer im nahen Golling und Andreas Rieger im Berliner Einsunternull prägten, eröffnete sein Restaurant mitten in der Pandemie. Ganz unprätentiös benannte er es nach der Hausnummer an der Mautnerstraße, gleich unterhalb der imposanten Burganlage, die das Städtchen an der Salzach dominiert. Auch Lobentanzer setzt ganz auf heimische Produkte und verarbeitet vom Lamm aus dem nahen Polting nicht die Edelstücke, sondern lieber Bries, Leber – oder den Hals: „Für mich eines der besten Teile“, sagt er, „richtig zubereitet ist er butterzart und besonders aromatisch.“ Neue bayerische Küche, das ist für ihn nicht das eine Zeit lang so trendige „Dekonstruieren“ von Traditionsgerichten – sondern sie mit modernem Küchen-Know-how „richtig gut zu kochen und ihnen so neue Wertigkeit zu verleihen“.
Handgemacht für die bayerische Küche
Eine sehr bewusste Hinwendung zur Region vollzog auch Wahlbayer Edip Sigl, der das Münchner Les Deux verließ, um im Sommer 2021 in der Chiemgauer Idylle von Grassau sein Es:senz zu eröffnen: „Hier draußen ist eine ganz andere Lebensqualität, das hat meine Küche sehr verändert.“ Beeindruckt haben ihn Erlebnisse wie das schimmernde erste Sonnenlicht über dem Chiemsee, als er eines frühen Morgens um 4.30 Uhr einen Fischer begleitete: „Man ruft nicht einfach im Großhandel an, sondern da wird jede Renke für uns von Hand aussortiert.“ Der 36-Jährige, verheiratet mit einer Chiemgauerin, baute sich ein konsequent regionales Netzwerk auf, das im Gourmetrestaurant des Hotels Das Achental weit über die Beschaffung von Zutaten hinausgeht. Das Lokal mit Blick in einen grünen Garten voller alter Apfelbäume wurde durchweg von lokalen Manufakturen gestaltet – vom geflochtenen Messing-Paravent im Entree über viel altes, sorgfältig aufgearbeitetes Holz bis hin zur Keramik der Töpferei Dorfkind im nahen Höslwang. Sigl ist begeistert von der porösen Haptik der Teller und Schalen: „Jedes einzelne Stück ist nach unseren Vorstellungen entwickelt und mit der Hand gedreht.“
Das passt zur Wachtel, die an der Karkasse gebraten und mit Spitzkohl, weißen Trauben und pointiert gewürztem Pfefferschaum serviert wird. Sie stammt nicht wie meist aus französischer Zucht, sondern von einer Erzeugerin, die im Dorf als „Seppenbäuerin“ bekannt ist. „In Bayern ist noch viel Tradition da“, sagt Sigl. „Man lebt mit der Landwirtschaft, das ist für einen Koch enorm inspirierend.“