Neue Pracht in Bordeaux

Genussreise Bordeaux
Vivants - Tanguy Laviale

Es sind schöne bodentiefe Holzfenster, aus denen der Blick hinausgeht auf die Rue des Bahutiers und die Place Saint-Pierre gleich nebenan, auf die Sandsteinfassaden der Stadtpalais gegenüber und das alte Pflaster der engen Gasse. Viel von dem Pflaster zu sehen ist an diesem Abend in der Altstadt von Bordeaux aber nicht – womit wir beim Namen des Restaurants mit den bodentiefen Fenstern wären: „Vivants“ heißt es, was so viel bedeutet wie lebendig oder lebhaft. Und damit ist zu der Stadt, in der diese Reportage beginnt, schon viel gesagt.

Oh ja, Bordeaux ist das pure Leben, selbst im Winter. Man lebt draußen, auf den Terrassen und den Plätzen. Jung und Alt machen sich abends schick und ziehen los, flanieren durch die Gassen, auf der Suche nach dem ersten Wein, um dann später ein herrliches Menü im Lieblingsrestaurant oder bei einem angesagten Newcomer zu genießen. Wer hier spontan einen Tisch möchte, hat oft Pech – die Bordelais sichern sich per Reservierung die guten Plätze, und die besten Lokale sind stets voll.
Bordeaux ist eine Stadt des Genusses geworden, wie es in Frankreich keine zweite gibt. Und wer vor 20 Jahren mal hier war, der weiß, dass dieser Wandel vor allem eines ist: erstaunlich. Denn damals war die Stadt des Weins grau und düster, die Fassaden der eleganten Herrenhäuser entlang der Uferpromenaden der Garonne waren nicht voller Patina, sondern vernachlässigt, die ganze Stadt schien im Tiefschlaf.
Zwischen Weinbergen und Ozean
Doch mit kluger Politik und vollen Steuerkassen riss der damalige Bürgermeister Alain Juppé das Ruder herum, ließ die Fassaden der Häuser reinigen, beleuchten – und die Bürger von Bordeaux fanden zum Stolz auf ihre Stadt zurück. Drei futuristische Museumsbauten später kam der Hochgeschwindigkeitszug TGV, der die Weinhauptstadt in zwei Stunden mit Paris verband, und sogleich erkannten die Hauptstädter die Lebensqualität der Metropole zwischen Weinbergen und Ozean. Inzwischen schickt Bordeaux sich an, Paris den Rang abzulaufen. Immobilien sind rar, ein schickes Hotel nach dem anderen eröffnet, und die Touristen kommen in Scharen.
Höchste Restaurantdichte Frankreichs
Keine andere Stadt in Frankreich kann – gemessen an der Einwohnerzahl – mit so vielen Restaurants aufwarten. Vor allem: mit so vielen guten Restaurants. Das liegt auch daran, dass die Bordelais wahnsinnig wählerisch sind. Davon kann Tanguy Laviale ein Lied singen. Der Spitzenkoch kam vor 15 Jahren aus Paris nach Bordeaux, der Liebe wegen. Nach dem großen Erfolg seines Lokals „Garopapilles“ eröffnete er zunächst das „Ressources“ und vor wenigen Monaten das „Vivants“.

Ein Lokal, wie gemacht für Einheimische: hohe Wände, Stuck an der Decke, eine große Bar mit Zinktresen. Alles ist mehr Wohnzimmer als Haute Cuisine, doch das Menü des Kochs mit den stechenden grauen Augen ist so kreativ wie zeitgeistig reduziert. So serviert Laviale den Seehecht leicht confiert in geräucherter Zwiebelemulsion und einem Tomatenschaum; die Linguine vom Tintenfisch aus dem Bassin von Arcachon mit Miso und knusprigen Nüssen geraten kein bisschen gummiartig, sondern zart und aromatisch. Und dann die Weinauswahl: 700 Positionen, der Schwerpunkt liegt bei Naturweinen, sehr viele gibt es glasweise. Anders geht es hier nicht, die Bordelais lieben Wein, leben Wein, wollen stets das Beste.
„Es ist nicht leicht, den Einheimischen gerecht zu werden“, sagt Laviale. „Die Bordelais sind sehr kritisch, die haben sehr hohe Erwartungen – wenn es nicht gut ist, kommen sie einmal und nie wieder.“
Inima - Oxana Cretu

„Das stimmt“, sagt Oxana Cretu, eine junge Köchin, die ein paar Straßen weiter residiert. „Wer es in Bordeaux geschafft hat, die anspruchsvollen Gäste zu überzeugen, der kann es überall schaffen.“ Sie sagt das mit einem Lachen, gibt aber auch zu, dass es nicht immer lustig war mit diesen kritischen und manchmal auch schwierigen Bürgern der Stadt. „Sie sind wahnsinnig von sich und ihrer Region überzeugt – und deshalb sehr verschlossen bei allem, was von außen kommt. Dabei sind es gerade wir, die von draußen kommen, die diese Stadt bereichert haben.“
Sie selbst kommt von ziemlich weit draußen, nicht aus dem Baskenland, nicht aus dem verhassten Paris, sondern aus Moldawien. Seit 2006 lebt sie hier in Bordeaux. Beruflich hat sie schon vieles gemacht, erst Marketing, dann Produktdesign, später studierte sie vier Sprachen, um schließlich mit 30 Mutter zu werden und zu denken: Ich will Köchin werden. Sie machte ein Praktikum bei Alain Ducasse, mehr nicht, den Rest brachte sie sich selbst bei.

Nun ist sie Köchin und Chefin, in ihrem kleinen Restaurant „Inima“, einen Steinwurf von der alten Oper entfernt. Dort komponiert sie wunderschöne Gerichte, die allesamt floral und farbenfroh daherkommen, wie etwa der gereifte Saibling mit Kürbis und Pfifferlingen in einem süffig-aromatischen Sud.

„In Moldawien kochen wir kaum mit Pfeffer, es gibt stattdessen Blüten und Beeren, die eine ganz andere Würze bringen“, erzählt sie. „Zudem arbeite ich sehr viel mit Brühen und Jus, weil wir in der Heimat beinahe jeden Tag Suppen essen und ich diese Tradition hier auf hohem Niveau weiterführen möchte.“
Wir verlassen die Stadt und wenden uns dem Dreiklang der Landschaft des Bordelais zu: Da sind die unendlich weiten Seekiefernwälder, die Napoleon einst anlegte, um diese weitgehend karge Gegend fruchtbar zu machen. Schnurgerade Stichstraßen ziehen sich durch die Wälder – bis die Baumwipfel schließlich aufreißen und den Blick freigeben auf den Ozean. 300 Kilometer Sandstrände bis zur spanischen Grenze, das ist die Côte d’Argent. Sie heißt so, weil der Sand wegen der vielen Muschelschalen silbrig glänzt. An der Bucht Bassin d’Arcachon gibt es unzählige Austernzüchter mit ihren pittoresken Cabanes, kleinen Holzhütten, in denen sie Meeresfrüchte, Austern, Crevetten und Rasiermessermuscheln direkt zur Verkostung anbieten.
Junge Köche kehren in die Heimat zurück
Im Landesinneren hingegen ist der Wein das große Thema. Von Médoc bis Pomerol, von Saint-Émilion bis Sauternes bauen Tausende von Châteaus Wein an – mal für sechs Euro die Flasche, mal für 6000, nach oben gibt es keine Grenze. Bei fast allen Gütern kann man eine Verkostung buchen. Oder man hält einfach an und klingelt. Es ist alles sehr einfach hier, das Leben – und auch der Genuss.
Aga - Alexandre Goniak und Gerie Jenne

Eine dreiviertel Stunde von Bordeaux in östlicher Richtung entfernt liegt Cadillac. Ein Bürger des Städtchens gründete vor 320 Jahren die heutige US-Autometropole Detroit – und so ist eine Fahrzeugmarke nach der Stadt an der Garonne benannt. Hochküche würde man in einem solch verschlafenen Ort eigentlich nicht erwarten, andererseits hat das ländliche Frankreich seit Corona eine bemerkenswerte Entwicklung genommen: Im ganzen Land sind junge Köche aus den großen Städten zurückgekehrt in ihre Heimat, so wie hier in Cadillac Alexandre Goniak und seine Frau Gerie Jenner. Er hat überall in Frankreich gekocht, in Deutschland und in Australien, dort lernte er Gerie kennen, die aus Neuseeland stammt und wegen ihres Vaters fließend deutsch spricht.
Doch als sie ihre Tochter bekamen, war klar: Sie brauchen die Unterstützung der Familie. Alexandres Eltern wohnten nahe Cadillac, am Stadtrand eröffnete er mit seiner Frau das Restaurant „Aga“. „Das mit den Produkten ist gar nicht so einfach“, sagt er. „Hier in der Gegend wird sehr wenig Gemüse angebaut, alle machen einfach nur in Wein. Und weil wir so klein sind, finden wir kaum Lieferanten.“ Also fährt der junge Koch selbst zu Bauern und Fischern, jeden Tag macht er seine Runde. „Es ist sehr viel Arbeit, so ein eigener Laden, das sind echte Lehrjahre.“

Aber es ist Arbeit, die sich lohnt, ganz besonders für die Gäste. Das Drei-Gänge-Menü am Mittag kostet gerade mal 30 Euro, dafür serviert Goniak ein aromatisches Tomatentörtchen und im Hauptgang einen herausragenden auf der Haut gebratenen Stör. Fisch im Ganzen liegt hier in Aquitanien wieder öfter auf den Tellern, außerdem wird in der Region inzwischen der beste Kaviar des Landes, Sturia, produziert. Die Gäste des „Aga“ kommen aus Bordeaux oder aus dem Ausland, aus dem Ort verirren sich nur wenige hierher. „Die Menschen auf dem Land sind immer noch etwas verschlossen“, sagt Goniak und lacht. „Die gehen lieber Steak-Frites essen. Aber das wird schon noch.“
La Grand’Vigne - Nicolas Masse

Eine – besonders in preislicher Hinsicht – ganz andere Liga ist eine halbe Stunde weiter südlich zu erleben. Mitten im Weinanbaugebiet von Pessac-Léognan hat die Kosmetikmarke Les Sources de Caudalie ein Luxusresort eröffnet. „La Grand’Vigne“ heißt das Gourmetrestaurant des Hotels, in dem Koch Nicolas Masse gemeinsam mit Sommelier Aurélien Farrouil Gerichte entwickelt, die auf die Lage anspielen. „Der Wein ist wie viele gute Früchte und Gemüse sehr sensibel“, sagt Masse. „Deshalb versuche ich, so vegetarisch wie möglich zu sein – wenn es geht, mit Permakulturen.“ Hervorragend gelingt das bei der Vorspeise, einer wunderschön angerichteten Artischocke, die der Koch mit einer pfeffrigen Spinatcreme füllt. Und besonders ansehnlich ist ein nachgebauter Rotweinkorken aus Esspapier und buttriger Foie gras, die mit roten Trauben aromatisiert wurde.

Masse stammt aus der Normandie, kennt das Ursprüngliche, Einfache. „Hier in der Aquitaine liegt die Schönheit in allen Dingen“, sagt er. „Das Meer ist so nah, die Berge des Baskenlandes sind es auch. Und wir befinden uns mitten in den Weinfeldern – es ist eine Welt der feinen Produkte.“ Seine Küche richtet sich nach den Jahreszeiten, zwei große Gärten auf dem Gelände versorgen ihn zuverlässig mit frischen Kräutern und Gemüsen, zudem lässt er sich von kleinen Bauern aus der Umgebung beliefern. Frankreichs Haute Cuisine, sagt der Koch, sei mit diesem lokalen Fokus endlich auf dem richtigen Weg. „Ich denke, unsere Küche war noch nie so nah an den Produzenten, an den Bauern, den Fischern, den Tierzüchtern, wie das heute der Fall ist. Und ich mag das.“
Château d’Yquem
Weiter nach Sauternes, Heimat des berühmtesten Süßweins der Welt. Die 840-Einwohner-Gemeinde erscheint wie das Klischee eines französischen Dorfs: Kirchturm, Boulangerie, Kreisverkehr, Bar. Ringsum erheben sich die sanften Hügel mit all den Weinbergen, auf denen aber kein Rotwein heranwächst wie sonst im Bordelais, sondern Weißer. Ganz besonderer Weißer. Denn der Fluss Ciron, der im nahen Tal fließt, bringt viel Nebel mit und fördert damit die Bildung eines Schimmelpilzes: Botrytis. Dieser perforiert die Traubenhaut und lässt das Wasser in den Beeren verdunsten. Zurück bleiben Zucker und jede Menge Aroma. Der Süßwein von Sauternes ist eine Legende, nicht zuletzt wegen der Spitzenerzeugnisse des Château d’Yquem.
Lalique - Jerôme Schilling

Im Château Lafaurie-Peyraguey machen sie auch einen Sauternes-Grand-Cru, aber heutzutage ist das Haus eher wegen des Restaurants „Lalique“ in ganz Frankreich ein Begriff, Besitzer ist das gleichnamige Luxusgüterunternehmen. Und wegen Jerôme Schilling. Der gilt vielen in Frankreich als künftiger Drei-Sterne-Koch. Seit 2023 trägt er mit Stolz den Titel Meilleur Ouvrier de France, der alle vier Jahre nach einem aufwendigen Wettbewerb an herausragende Vertreter verschiedener Handwerke vergeben wird.
Der Kragen in den Trikolorefarben Bleu-Blanc-Rouge, die hochaufragende Kochmütze – Schilling sind Konventionen wichtig. Das wirkt wohltuend in einer Zeit, in der selbst hochdekorierten Köche in Sneakern daherkommen, um ihre Lässigkeit zu demonstrieren. „Als ich ein Kind war, hat mein Vater am Sonntag immer mit Anzug und Krawatte am Tisch gesessen, auch daheim“, sagt Schilling. „Das hat mich geprägt.“ Der Elsässer spricht fließend deutsch – mit diesem herrlichen Singsang-Akzent, der der Region eigen ist.
Joël Robuchon war sein Lehrmeister, von ihm hat der Koch mit dem Bürstenschnitt einen Leitspruch übernommen und zu seinem eigenen gemacht: „Exzellenz ist Arbeit, die einfach gut gemacht ist.“ Um wahrhaft exzellent zu sein, setzt er sich am liebsten an einen der Tische im Gastraum. Wobei Gastraum ein profanes Wort ist für diesen Saal. Einem Wintergarten gleich, rahmt ihn auf drei Seiten bodentiefes Glas, das den Blick freigibt in die Weinfelder. Hier plant der Koch während des Vormittags seine Kreationen – die Augen auf die Reben gerichtet.
Rollentausch: Das Essen dient dem Wein

Denn immer steht der Wein bei seinen Menüs im Vordergrund. Schilling hat mehrere renommierte Kritiker gebeten, die Jahrgänge des Châteaus zu verkosten und die Aromen der Weine zu entschlüsseln. Beim 2011er-Süßwein des Hauses sind das etwa Zitrone, Orangenschale, Zimt, Mirabellen und Bergamotte. Rund um diese Aromen entwickelt Schilling dann seine Gerichte, um genau diesen Wein zu begleiten. Rollentausch also: Hier dient das Essen dem, der sonst stets als „Begleiter“ fungiert. Außerdem verwendet Schilling Elemente aus der Weinproduktion. So mariniert er seinen Seehecht mit dem Öl aus den Traubenkernen der gutseigenen Lese. Und das Fleur de Sel für seine Küche setzt er mit der Maische aus der zweiten Pressung an. Dass die Butter traditionell in Reben- und Weinblattform an den Tisch kommt, mag rein optische Gründe haben. Die anderen Dinge jedoch ergeben auch geschmacklich Sinn. Aber auch dort, wo Schilling sich mit direkten Bezügen zur Welt des Weins zurückhält, weiß er zu überzeugen: etwa beim Zweierlei von der Languste – als Carpaccio mit Piment d’Espelette und Kalamansi sowie perfekt à point frittiert mit Blüten und Pollen. Allein dieses Gericht beweist den beeindruckenden Umgang des Elsässers mit Spitzenprodukten – von ihm werden wir noch viel hören. Alles wird auf chinesischem Porzellan serviert und in Karaffen und Gläsern der Firma, deren Name das Restaurant trägt. In diesem sehr besonderen Wintergarten können die Gäste während des Menüs den Lauf der Abendsonne verfolgen, bis diese im Süden in den Reben versinkt. Es ist ein fabelhaftes Schauspiel und ein Fest der Geselligkeit in der wiederentdeckten Genussregion am Atlantik.