Kulinarische Immigration: Ein großes Geschenk

Kulinarische Immigration: Ein großes Geschenk

Pizza und Pasta, Kimchi und Koriander: Wie arm wäre unsere Küche ohne Einwanderer und ihre Esskulturen! Der Dank gilt unseren kulinarischen Entwicklungshelfern.
Text Madeleine Jakits
Datum02.05.2025

Kaffirlimette. Ricotta. Okra. Harissa. Medjool. Ducca. Passionsfrucht. Kalamansi-Essig. Lardo. Tahin. Bulgur. Roscoff-Zwiebel. Sumach. Chorizo. Zitronengras. Burrata. Panko. Jalapeño. Ras el-Hanout. Mango. Datteltomate.

Nur eine Kostprobe der wunderbaren Zutaten, die uns heute in Deutschland in Überfülle zur Verfügung stehen – und die eine hoch willkommene Gesellschaft „kulinarischer Einwanderer“ bilden. Für Hobbyköche – und für Profis sowieso.

Früher unvorstellbar

Unsere Mütter hätten diese Aufzählung vor 40 Jahren noch ratlos gemacht. Heute bedeutet die Vielfalt im Einkaufskorb Inspiration und Genuss. Süßkartoffeln schälen, Granatapfelkerne auslösen, Korianderblätter zupfen, Belugalinsen abspülen – Kochen tut gut. Gerade in Krisenzeiten. Besonders in Zeiten von Weltuntergangsängsten.

Kulinarische Vielfalt

Wo aber wären wir ohne die vielen Menschen aus anderen Kulturen, die uns einst ihre Spezialitäten, die sinnlichen Düfte ihrer Gewürze, die Rezepte ihrer Heimatküchen mitbrachten und damit unseren kulinarischen Horizont ins Unermessliche erweitert haben? Mit vielen „zugewanderten“ Zutaten sind wir längst bestens vertraut. Wir wissen, wie man Radicchio ausspricht, dass man Kumquats mit der Schale verspeist, dass die zähen Blätter von bretonischen Artischocken nicht gegessen, sondern nur gezuzelt werden, und dass das Beste bei dieser gekochten Distelblüte zum Schluss kommt: das Herz!

Ein Rückblick auf die Anfänge

Kaum noch vorstellbar: Mitte der 1980er-Jahre präsentierte die Zeitschrift „Brigitte“ ihren Leserinnen Rezepte und Warenkunde, die ihnen Suspektes wie Zucchini und Auberginen schmackhaft machen sollten. Und heute? Da gibt es sogar schon frische Ingwerwurzeln in Bioqualität – aus der Lüneburger Heide! Blicken wir zurück: Nach zwei Weltkriegen lag selbst die frugale Esskultur der Deutschen in Trümmern. Sie hatten die Eintopfsonntage der Nazis hinter sich, die Erfahrung von Hunger, Armut und Scham noch nicht verdaut. Aber ausgerechnet die kuriose Erbswurst – ein schnittfestes Gemenge aus Fett und Proteinen, ursprünglich für den Proviant der Soldaten erdacht – überlebte noch Jahre in den Speisekammern der jungen Bundesrepublik.

Das perfekte Sonntagsessen: Rindsroulade

Die Fantasie der meisten (Haus-)Frauen am Herd war noch in den 50er- und frühen 60er-Jahren sehr übersichtlich, die Auswahl an Zutaten auch: jede Menge Kohl- und Bohnensorten, Schweinefleisch in jeder erdenklichen Form, Kartoffeln, Suppengemüse, Kopfsalat, Bohnenkraut und krause Petersilie, Gemüsezwiebeln, Hering, Rotbarsch und Haferflocken.

Die Rindsroulade, noch heute angeblich das Lieblingsgericht der Deutschen – noch vor Currywurst mit Pommes, Wiener Schnitzel, Döner und Lasagne – war ein sonntäglicher Luxus der wunden Nachkriegszeit. Eine frühe Erfolgsgeschichte kulinarischer Zuwanderung war die des eingelegten grünen Pfeffers: Die Körner veredelten in den Sechzigern und Siebzigern nahezu alle Sahnesaucen zu Fleisch.

Die verhängnisvolle Ära der Fertiggerichte

In den Achtzigern stahl dann der schärfere rosarote Pfeffer den grünen Körnern die Schau – auf dem Lachs zu Weihnachten. Die erfinderische internationale Lebensmittelindustrie erkannte die eben gegründete Bundesrepublik schnell als dankbaren, geradezu ausgehungerten, bedürftigen Markt.

So begann eine verhängnisvolle Ära ungesunder hoch verarbeiteter industrieller Zutaten und Fertiggerichte. Im Nu stand zum Beispiel die Schweizer Flüssigwürze „Maggi“ auf fast jedem Tisch: für den „fleischigen“ Geschmack – dank reichlich Glutamat. 1956 begeisterten die einzeln in Folie gehüllten Schmelzkäse-„Scheibletten“ von Kraft Foods, ideal zum Überbacken (Toast Hawaii!); und die makellosen Dosenfrüchte in schwerem Zuckersirup von Libby’s (seit 1970 Nestlé); aber auch Tabasco und Worcestershiresauce rüttelten deutsche Gaumen auf.

Aus der Tüte auf den Teller

In England hatten sie nach dem Krieg die tiefgekühlten Fish Fingers erfunden, Fischstäbchen in knusprigem Teigmantel. Sie sollten vor allem für Kinder in Zeiten einer noch brachliegenden Landwirtschaft eiweißreiches Essen bieten – das aber bloß nicht nach Fisch aussehen sollte. Eine revolutionäre Erfindung, die schon 1959 den Sprung über den Ärmelkanal zu uns schaffte. Und mit Heinz Ketchup als Begleiter auch dem hiesigen Nachwuchs die Fischmahlzeit versüßte. Nicht selbst kochen, sondern auftauen, aufbacken. Motto: aus der Tüte auf den Teller. Frauen, die nun ihre Familien mit Convenience Food versorgten, bekannten sich zum Fortschritt, den die Werbung suggerierte und der neben der Bequemlichkeit auch Glück und Wohlstand versprach – eben den „American Way of Life“, jetzt mit Kühlschrank und Gefriertruhe zur Vorratshaltung.

Zwischen verführerischem Frauenbild und billigen Zutaten

Dazu als Versprechen ein verführerisches Frauenbild in der Welt der Reklame: nicht mehr Heimchen am Herd sein, sondern entspannt, gepflegt, frisiert und manikürt den Gatten abends ausgeruht mit seinen Hausschuhen in der Hand und einem Drink („Can I fix you a Martini, darling?“) empfangen. Wie es der Zeitgeist der amerikanischen Filme vorlebte. Die als bequem und zeitsparend verherrlichten Konstrukte der Lebensmittel-Industrie bestanden meistens vor allem aus billigen Zutaten mit vielen Zusatzstoffen.

Nur ein gutes Jahrzehnt nach dem letzten Krieg machte sich eine dramatische Entfremdung von frischen, selbst zubereiteten Lebensmitteln bei immer größer werdenden Teilen der weiblichen (und der damit fürs Essenmachen zuständigen) Gesellschaft breit. Mit der Zeit wurde Italienisches – oder was man dafür hielt – bei den Tedeschi immer beliebter.

Dosen-Ravioli - ein Erzeugnis aus der BRD

Wer in Würzburg aufwuchs, hatte immerhin die Chance, schon 1952 die echte Pizza fast 20 Jahre vor der ersten industriellen Tiefkühlversion zu erleben: in der Elefantengasse 1, gebacken von Nicolino di Camillo aus den Abruzzen. Er nannte seine Pizzeria „Le Sabbie di Capri“ (Die Strände von Capri). Es gibt das Restaurant als „Capri Blaue Grotte“ noch immer, und es ist weiterhin im Besitz von Nicolinos Familie. Auch der 14. Mai 1958 wirkt bis heute nach: Es war der Tag, an dem die erste in der BRD erzeugte Dose Ravioli in Singen vom Fließband rollte.

Lange waren die Konserventeigwaren in Tomatensauce fester Bestandteil deutscher Vorräte für den Campingurlaub in Italien – von Vertrauen in die Originalküche des Gastgeberlandes keine Spur. Es soll bis heute noch Leute geben, die dieses Produkt begeistert direkt aus der Dose löffeln – und zwar kalt!

Pizza, Pasta, Natas, Zucchinis, Auberginen, Artischocken ...

Nach der Büchsenpasta dauerte es nicht lange, bis man den Dreh mit „Mirácoli“ raushatte, dem Spaghetti-Set in der Schachtel: lange Nudeln, rote Sauce in der Tüte und abgepackte blasse Käsestreusel, die an Sägemehl erinnerten. Ein früher Glücksfall für dieses Land, der kulinarisch bis heute nachwirkt, waren die Jahre von 1955 bis 1968: Es war die Zeit des aufblühenden Wirtschaftswunders und damit der dringlich angeworbenen, vor allem männlichen Arbeitskräfte, der sogenannten Gastarbeiter – von denen, anders als von der Regierung geplant, viele kamen, um dann doch zu bleiben. Zunächst trafen Italiener ein, von deutschen Fernsehteams neugierig empfangen. 

Später stiegen Spanier, Griechen und Türken aus den Zügen, schließlich Portugiesen und Jugoslawen. Die Italiener brachten Pizza und Pasta mit, ihr Gelato, ihren Caffè; die Jugoslawen ihr Cevapcici; die Türken ihren Döner Kebab; die Griechen ihr Stifado, die Spanier ihre Paella und die Portugiesen ihre süßen Natas zum Galão, dem Milchkaffee. Diese bunte Gesellschaft von neuen Nachbarn, ernüchtert vom hiesigen Angebot an Zutaten und Lebensart, eröffnete schon bald immer mehr kleine Läden als Familienbetriebe. Ihr wertvollstes Gepäck und auf lange Sicht gigantisches Gastgeschenk: ihre Esskultur. Sie boten an, was sie für ihre Küche aus der Heimat benötigten: Gemüse (Zucchini! Tomaten! Auberginen! Fenchel! Artischocken!) und Obst (Feigen! Datteln! Granatäpfel! Limetten! Blutorangen! Melonen!) in prachtvoll angeordneten Auslagen, Kräuter (Rosmarin! Thymian! Oregano! Koriander!), zu Zöpfen gebundenen Knoblauchknollen und Zwiebeln, Pfefferschoten, eingelegtem Schafskäse und vielem, vielem mehr. 

Das größte Geschenk: Spaghetti-Eis

Diese neuen, gewitzten Händler im Land zeigten ihrer anfangs noch sehr zögerlichen deutschen Kundschaft außerdem, wie Freundlichkeit geht, wie gut es sich mit einem Lächeln und schmackhaftem Essen leben lässt. Apropos Gelato: Einem gerade mal 17-jährigen Italiener namens Dario Fontanella, der in Mannheim aufwuchs, verdankt die Welt seit 1970 eine kuriose und bis heute in Deutschland beliebte Spezialität – das Spaghetti-Eis. Auf einer Schicht geschlagener Sahne türmte Fontanella lange Stränge aus Vanilleeis, darauf Erdbeersauce und Raspeln von weißer Schokolade. Der Kindertraum von Spaghetti mit Tomatensauce – in süß! Die Lust auf Italien hat damals auch die Industrie beflügelt: 1970 wird zur Zeitenwende, als Dr. Oetker seine erste Tiefkühlpizza lanciert, die „Pizza alla Romana“, belegt mit Mozzarella, Provolone, Mortadella, Tomatensauce und Paprika. Das Publikum ist hingerissen, die Deutschen sind fortan Pizzafans, erst recht, als 1982 Oetkers Kreation „Knusperia – Bella Bolognese“ mit dünnerem Teigboden auftrumpft.

Zutaten aus aller Welt

Bemerkenswert, wie rasant die Lebensmittelindustrie in jenen Jahren das Angebot frischer Zutaten immer stärker aus deutschen Supermärkten verdrängte. Aber zur selben Zeit wuchs eine Auswahl an nie gesehenen „echten“ Zutaten heran, die heute schier unendlich ist, zunächst importiert von heimwehkranken Zuwanderern aus allen Himmelsrichtungen, heute ein regelrechter Wirtschaftszweig mit entsprechender Logistik auf Schiene, Straße, in der Luft und auf See. 

Reisen, Rezepte, Genuss!

Mit wachsendem Wohlstand mauserten sich die Deutschen zu Reiseweltmeistern – und kamen schon wieder auf den Geschmack. Nun öffneten sich sogar zu Hause die Türen zu den Küchen Thailands, Chinas, Vietnams, Indiens und Japans mit einem riesigen Vorrat aller Zutaten, die man zum Nachkochen hierzulande nicht mehr lange suchen musste. Vor allem auch durch die früh zugewanderten Mitbürger wurde der Boden von Kiel bis Konstanz bereitet für ein Magazin wie den Feinschmecker und andere Food-Zeitschriften. Gemacht für Leser, die nicht nur gute Restaurants suchten, sondern zunehmend auch am eigenen Herd ihr Glück und ihr Experimentierfeld fanden. Zum 50. Geburtstag des Feinschmeckers möchte sich die Redaktion darum bei allen unseren „Entwicklungshelfern“ nachdrücklich bedanken! Molte grazie! Tesekkürler! ¡Muchas gracias! Puno ti Hvala! Sas efcharistó! Muito obrigado!

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