René Redzepi

Die Vordenker – René Redzepi

René Redzepi hat Kopenhagen vor fast 20 Jahren zum Epizentrum einer selbstbewussten, radikal nordischen Regionalküche gemacht – ohne Olivenöl, ohne Zitronen. Aus der Idee wurde eine viel beachtete Bewegung, die Skandinavien in der Foodszene ganz nach vorne brachte
Datum09.06.2020

Bei Ferran Adriá, im experimentierfreudigen „El Bulli“, hat René Redzepi einmal gesagt, habe er gelernt, dass man alle Regeln aus dem Fenster wirft, um lieber etwas noch nie Dagewesenes zu denken. Er, der nicht nur diese Station an Kataloniens Küste absolviert hat, sondern auch bei den Brüdern Pourcel im „Le Jardin des Sens“ in Montpellier und in Kalifornien bei Thomas Keller in der „French Laundry“ High-End-Küche zubereitet hat, kehrte 2001 in seine Heimat zurück. Dort wartete der Posten des Souschefs auf ihn – im „Kong Hans Kælder“, einer Kopenhagener Institution für Freunde der klassischen französischen Haute Cuisine. 

Und dann, nur zwei Jahre später: das „Noma“! Statt Pasteten mit Trüffeln oder Foie gras mit Sauternes-Gelee kamen hier Sachen auf den Tisch, die in den Augen der Einheimischen oft wenig Wert hatten, schon gar nicht in einem ernst zu nehmenden, teuren Restaurant: zutiefst „einheimische“ Speisen, zubereitet aus Dill, Karotten, Knollensellerie, Petersilie, Zwiebeln, Spinat, Kerbel, Waldmeister, Sauerampfer, Farnsprossen, Schnecken, Fleisch vom Moschusochsen, Seegurken, Algen, Buttermilch, Molke, Sahne, Milchhaut (Albtraum aus Kindertagen), Meerrettich, Preiselbeeren, Moltebeeren, Rhabarber – und jetzt auch noch Ameisen! Wegen deren Säure, Redzepi verbietet sich Zitronen und züchtet ein eigenes Volk in einem dafür angelegten Terrarium.

Redzeptis Kosmos kam schon immer ohne Tischdecken aus. Bei allen Verkostungen dabei: das große internationale Team. Eigene Meinungen und Ideen erwünscht

rechts: geformt aus grünem Spargel – zwei Stangen mit Kräuterbouquet.

„Hidden Treasures“, verborgene Schätze, nennt der heute 42-jährige Redzepi die immense Zahl an Zutaten, die einfach da sind, nicht importiert werden müssen, von denen viele meist unbeachtet am Wegesrand gedeihen und die man selbst sammeln kann, draußen in der Natur. Etwas, das er mit seinen Köchen regelmäßig unternimmt. Lehrstunden in Flora und Fauna. „Und“, meint Redzepi „da draußen wächst noch so viel mehr, von dem wir noch gar nicht mal wissen, dass es essbar und gesund ist.“ Manche nannten ihn wegen seines Forscherdrangs und seiner Experimentierfreude den „Ferran Adrià des Nordens“ – nur dass Redzepi ohne Trockeneis-Hokuspokus und Mimikry-Späße auf den Tellern auskommt. Er bleibt lieber auf dem Boden – auf den Gemüseäckern seiner Heimat. Oder serviert ganz pur Tiefseekrabben und prächtigen Kaisergranat aus den kalten Gewässern vor den Färöer-Inseln, Miesmuscheln, Stabmuscheln, Schneckenmuscheln, Hummer aus dem Kattegat, Lamm aus Jütland, Fleisch vom Moschusochsen aus Grönland, im Herbst Tatar vom Rentier, von Jägern gelieferte Fasane, Wildschweine und Hasen.

„Viele dänische Gäste fühlen sich bei uns an den Geschmack ihrer Kindheit erinnert, an das, was ihre Großmütter noch täglich frisch kochten“, hat der Küchenchef beobachtet. Viel zu sehr hat sich die Mehrheit auch der Dänen an industriell gefertigte, „weltfremde“ Fertignahrung und Fast Food gewöhnt. Da ist der ultrasaure Sanddorn ein Schock, genauso wie der verkohlte Lauch mit seinem tollen Fortissimo-Aroma oder die in heißer Asche langsam gebackene Rote Bete, der Sellerie oder die Steckrübe, die vielen als Wiedergänger aus der Arme-Leute-Küche der Nachkriegszeit eigentlich keinen Pfifferling wert sind. „Die meisten Dänen dachten anfangs, das ‚Noma‘ sei ein Witz“, erinnert sich Redzepi.

  1. Stillleben aus Herbstzutaten mit einem Zweig vom sauren Sanddorn.
  2. was von der Ente bleibt – Tatar und Hirn.
  3. ein Seestern zum Dessert – aus Karamell und Kardamom

Was im„Noma“ auf die Teller kommt, ist zurückverfolgbar auf die Erzeuger, die Fischer, die Sammler und die Jäger. Das trifft den Nerv eines vor allem urbanen, globalisierten Publikums, das die Idee gut findet, ein Maximum an Transparenz und originellen Ideen zu vereinen und eine typisch nordische Küche auf Topniveau zu bieten. Und die dabei auch möglichst gesund und ethisch unverdächtig ist – Gänse stopfleber wird man im „Noma“ auf immer vergeblich verlangen. Man trinkt hier Naturwein – ein Schwerpunkt der Getränkekarte –, hausgemachte Säfte oder Tees zum Essen. Ein appetitanregender und heimeliger Duft vom Holzkohlegrill zieht durch die mit hellem Holz ausgekleideten Restauranträume. Hygge!

Keiner vor ihm hat mit einer bis in die Wurzelspitzen regionalen Küche weltweit derart Furore gemacht wie René Redzepi, der Sohn einer Dänin und eines aus dem damaligen Jugoslawien nach Dänemark eingewanderten Mazedoniers. Der Junge wuchs in einfachsten Verhältnissen auf und bezeichnet sich heute mitunter selbst als „mazedonischen muslimischen Tellerwäscher“. Darin schwingt bei aller Ironie auch ein bitterer Ton mit: Als Kind mit Migrationshintergrund ist Redzepi nicht nur nett behandelt worden.

Alain Ducasse, düpiert vom Erfolg dieses Nobodys im ausgeleierten T-Shirt, der auf einem Lastenfahrrad durch Kopenhagen kurvt, reklamierte bald für sich, dass er ja seit Jahrzehnten regionale Küche kultiviere, was daran denn im ‚Noma‘ so weltbewegend neu sei? „Stimmt“, hat Redzepi erwidert. „Aber neu ist, dass wir es jetzt auch so weit oben im Norden machen.“ Gesagt werden müsste auch: Eine enge Zusammenarbeit von Leuten wie Redzepi – und längst auch vielen seiner Kollegen weltweit – mit ihren Lieferanten bewahrt eine Produktion in menschlichem Maß: Der Fischer mit seinem kleinen Kutter hat durch die auf Nachhaltigkeit bedachte Köchegeneration Arbeit; auch der Sammler, der Pilze, Wildkräuter und Farnspitzen suchen geht; der Taucher, der feinste Muscheln vorsichtig nach oben bringt; der Bauer, der alte Gemüsesorten rettet und damit wieder für Biodiversität sorgt. Und: Bei René Redzepis striktem nordischen Terroir-Ansatz verbieten sich „Noma“-Filialen von Dubai über Sydney, Tokio, London und San Francisco. 

Dennoch hat das kleine Restaurant „Noma“ in seinen Gründerjahren weltweit eine neue Food-Bewegung ausgelöst. Und jede Menge Neugierige aus der ganzen Welt in die nordischen Länder gelockt. Erstaunlich auch: Im Gefolge des „Noma“-Booms gewannen plötzlich Skandinavier den Köche-Wettbewerb „Bocuse d’Or“, ihr wochenlanges Training im Vorfeld wurde finanziell von der Politik unterstützt. So holte man plötzlich Ströme von Genusstouristen in Länder, die vorher nie für gutes Essen berühmt waren. In Deutschland ist der Boden dafür längst bereitet. Aber Berlin schläft.

Das Prinzip "Noma" – alle machen mit

Koch & Keller: Von Anbeginn im November 2003 bedienen auch die „Noma“-Köch:innen mit sichtlicher Freude im gänzlich unprätentiösen Ambiente und erklären den Gästen die Gerichte. Redzepis gesamte Mannschaft ist eine internationale Armada von jungen Köchinnen und Köchen, die für die Sache brennen, stolz sind auf das Konzept von einheimischen Zutaten und nachhaltigem Wirtschaften. Die „Amtssprache“ ist für alle Englisch, in der Küche und an den Tischen. Es gibt übers ganze Jahr nur drei Menüs (kein À-la-carte-Angebot) – eine Seafood-Parade mit grandiosen Produkten aus den kalten Gewässern des Nordens für den Winter (von Dezember bis April); ein vegetarisches Menü, teils roh, teils gekocht, viele Zutaten selbst angebaut für den Sommer; und schließlich ein Herbstmenü mit Wild, Wildgeflügel, Eingelegtem und Fermentiertem, Beeren, Pilzen, Birnen, Äpfeln, Sanddorn usw. von September an. Im „Noma“ dabei zu sein, vor allem in der Küche oder in der Experimentierküche – und sei es nur für vier Wochen –, schmückt den jungen, zeitgeistigen Lebenslauf. Dafür macht man dann auch gern mal ohne geregelten Lohn als Praktikant mit. Und reist mit viel neuem Know-how weiter.

Der rastlose René Redzepi – ein Koch mit Mission

Weltgewandt: René Redzepi spricht druckreifes Englisch. Über das „Noma“ werden Doktorarbeiten geschrieben und 90-minütige Dokus gedreht. Er selbst wurde 2011 in die USA eingeladen – zum Gastvortrag an der Yale University.

Weltreisend: Redzepi zog mehrmals mit dem „Noma“-Team und deren Familien für Monate ins Ausland: Pop-up-Kochen mit lokalen Zutaten in London (2012), Tokio (2015), Sydney (2016), Tulum/Yucatán, Mexiko (2017) – und immer ausverkauft!

Weltbewegend: 2004 kamen ein Dutzend Spitzenköche der nordischen Länder zusammen und vereinbarten ein „Manifest der neuen nordischen Küche“, bestehend aus zehn „Spielregeln“. Im Wesentlichen behandeln sie die Themen Frische, Einfachheit, Regionalität, Saisonalität, Nachhaltigkeit, ethische Tierhaltung, Kooperation mit Kleinsterzeugern, Modernisierung und Verfeinerung der traditionellen Küchen des Nordens. Impulsgeber war der Däne Claus Meyer, Koch, umtriebiger Gastro-Unternehmer und Mitinhaber des „Noma“. Sein Kompagnon René Redzepi war das ideale Role Model. Der Nordische Ministerrat hat an dem Manifest mitgearbeitet und es als Leitfaden in seine Arbeit aufgenommen. Warum gelingt so etwas nicht bei uns?

Noma
I N R Q

Das Kopenhagener Spitzenrestaurant hat regionale Küche auf eine neues Level gehoben und damit einen eigenen Küchenstil geprägt: "New Nordic". Das Team um Inhaber und Küchenchef René Redzepi serviert drei verschiedene Menüs pro Jahr, die saisonal geprägt sind. Im Sommer basiert das Menü auf pflanzlichen Produkten, im Herbst auf Wild und im Winter auf Fisch. Kein Gericht gibt es zweimal, jedes Mal gibt es einzigartige Menüs, etwa mit gegrilltem Kabeljaukopf und einer säuerlichen Sauce aus Ameisen zum Dippen, butterzartem Tintenfisch in Algenbutter Kuchen aus Plankton. Neben ungewöhnlichen Grundprodukten, spielt Fermentation eine wichtige Rolle in der Küche der Skandinavier.

Refshalevej 96, 1432 Kopenhagen, DK
+45 32 963297
www.noma.dk
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