Interview mit Pierre Gagnaire

DER FEINSCHMECKER: Kennen Sie eigentlich den Feinschmecker?
PIERRE GAGNAIRE: Ja, ich kenne Ihr Heft sogar sehr gut. Und ich bin immer
wieder erstaunt, dass es in Frankreich mit seinen vielen kulinarischen Traditionen kein ähnliches Magazin gibt. Genauso erstaunlich ist es, dass man in Frankreich kaum über deutsche Köche spricht, dabei gibt es bei Ihnen außergewöhnliche Talente und schöne Häuser. Leider hatte ich in der letzten Zeit wenig Gelegenheit, deutsche Restaurants zu
besuchen. Ich führe viele Restaurants weltweit, arbeite sehr viel, ich reise leider kaum zum privaten Vergnügen.
Sie sind gerade 75 Jahre alt geworden, wie feiert ein renommierter Koch wie Sie so ein besonderes Datum?
Meinen Geburtstag habe ich in Shanghai gefeiert, im kleinen Kreis, wie immer.
Ich habe meine Geburtstage noch nie aufwendig gefeiert, denn ich war immer
bei der Arbeit. Und ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Meine Frau trinkt seit
zwei Jahren keinen Alkohol mehr.
Was war Ihre erste prägende kulinarische Erfahrung als Kind?
Ich war bereits 18 Jahre alt, als mich das Pariser Restaurant „Lasserre“ zutiefst
beeindruckte. Nicht das Essen in erster Linie, sondern die märchenhafte Atmosphäre mit dem Dach, das sich abends zum Sternenhimmel öffnet. Es war ein ungewöhnlicher Ort, außerhalb der Zeit und meines normalen Lebens.
Haben Sie den Eindruck, dass solche Grand Restaurants aussterben? Viele junge Köche bevorzugen heute eine eher schlichte Philosophie bei Design und Küchenstil.
Man schafft in der Tat extrem simple Orte. Warum legt man keine Tischdecken
mehr auf? Eine Tischdecke ist doch wunderschön. Und warum gibt es keine
Blumen mehr? Mein Eindruck ist, dass die großen Restaurants in Hotels nicht
mehr so richtig funktionieren, die Menschen bleiben gern in ihren Stadtvierteln,
suchen das Familiäre. Aber aus meiner Sicht wird es immer große Restaurants
geben, allein schon deshalb, weil sie die Köche am besten ausbilden und weiterentwickeln.
Wie stehen Sie zu Trends?
Köche sollten sich vor Trends hüten, die alles vereinheitlichen. Vor allem in den
sozialen Netzwerken beobachtet heute jeder jeden. Sie wissen schon: Tattoos, Ohrringe, ähnliche Kleidungsstile. Aber es wird immer große Talente geben –
wie auch neue Moden. Gemüse etwa, heute ein Trend, war schon immer die
Grundlage meiner Küche, aber ich mache das nicht zu meinem Aushängeschild,
zu meinem Credo. Eine Küche muss poetisch sein, sie muss persönlich sein, sie muss Zärtlichkeit ausstrahlen, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit.
Haben Sie eine Idee, wie man junge Menschen überhaupt motivieren
kann, in Restaurants zu arbeiten?
Wichtig ist ein guter Arbeitgeber, der Lust auf den Beruf macht, damit sich die Mitarbeiter wohlfühlen. Toll ist auch, dass man sich in unserem Beruf immer
weiterbildet: Was macht Pfeffer aus Madagaskar aus? Welche Vanille ist die
beste? Wie wird Geflügel aufgezogen? Nur leider gilt „dienen” heute als unschönes
Wort. Jeder will nehmen, nicht geben. Die jungen Leute sind sehr selbstbewusst.
Aber ehrlich gesagt, Madame, habe ich keine Lösung für das Problem.
Gibt es ein Detail, das Sie an Ihrem Beruf am meisten lieben?
Ich liebe den Service. Wir empfangen Gäste, wir bringen sie in eine angenehme
Stimmung. Und dann zu sehen, wie alles zusammenläuft, wie eine Show, die richtig rund läuft. Jetzt ist es 11.30 Uhr. Um 12 Uhr kommen die Gäste. Alle im Restaurant sind bereit, das ist wunderbar.
Früher haben Sie sich von Musik und Fotografie für Ihre Gerichte inspirieren lassen. Ist das immer noch so?
Diese Dinge sind immer noch wichtig für mich, aber was mich heute inspiriert, sind: Stille, Reflexion, Konzentration. Dem anderen zuhören. Genau auf die Jahreszeiten und auf die Produkte achten.
„Mein Talent ist es, Geschmackskompositionen im Kopf zu entwickeln.“
Was würden Sie als Ihr größtes Talent bezeichnen?
Sein Talent entdeckt man erst im Laufe der Zeit, meines ist es, Geschmackskompositionen im Kopf zu entwickeln. Aber jeder Koch ist anders. Joël Robuchon zum Beispiel hatte eine teuflische Präzision.
Obwohl Sie offiziell im Rentenalter sind, sind Sie jeden Tag im Restaurant.
Was ist Ihre Motivation?
Die Freude, anderen eine Freude zu machen. Auch das Pflichtbewusstsein,
schließlich zahlen die Gäste einen Preis und haben entsprechende Erwartungen.
Die Mitarbeiter brauchen meine Energie. Wenn sie spüren, dass ich dieses heilige
Feuer nicht mehr habe, verlieren sie ihre Motivation. Ich bin eine Lokomotive, die den Menschen jeden Tag Lust macht, über sich hinauszuwachsen.
Außerdem sind Sie in Kochshows zu sehen sowie Markenbotschafter für die französische Fruchtaufstrich-Marke St. Dalfour.
Ja, das ist ein gutes Produkt, und die Menschen, die das Unternehmen nahe
Bordeaux führen, haben ein großes Qualitätsbewusstsein. Das gefällt mir.
Wie veredelt ein Spitzenkoch Fruchtaufstriche?
Man kann etwas Zitronensaft und sogar Pfeffer hinzufügen sowie frische Früchte, man kann eine Tarte damit backen, sie zu einem Sorbet oder Eis servieren. Oder Sie verarbeiten die Aufstriche zu einer Würzpaste – schön zu Wild, Wurst oder
Terrinen. Und sie passen natürlich gut zu Käse.
Ist Präsident Macron eigentlich oft Gast bei Ihnen?
Aber nein, die Spitzenpolitiker gehen in Frankreich nicht oft in Restaurants, man
sieht sie selten öffentlich. Das ist bei uns nicht wie in Deutschland, wo Angela
Merkel gelegentlich sogar im Supermarkt einkauft.

