Edip Sigl – Wie ein Spitzenkoch den Chiemgau wachküsst

„Boah, ist das schön hier!“
Edip Sigl kann sich noch genau an seinen ersten Besuch am Chiemsee erinnern. Damals, er war Anfang 20, saß er mit einem Kumpel und einer Flasche Bier bei Sonnenuntergang am Seeufer und traute seinen Augen nicht: „Es war Kaiserwetter, wie die Leute hier sagen. Segelboote schaukelten auf dem Wasser, der Himmel strahlte in allen Farben, am Horizont erhob sich die mächtige Kampenwand – das war phänomenal beeindruckend.“ Sigl, in Köln aufgewachsen und damals als junger Koch in Berlin beschäftigt, kannte nur Großstadt. Und nun hatte er einen Vertrag unterschrieben, um in dieser idyllischen Landschaft zu arbeiten – bei Heinz Winkler, dem damals führenden Spitzenkoch weit und breit. Die Zeit in Aschau sollte prägend werden, privat wie beruflich.
Bei Winkler lernte Sigl nicht nur seine heutige Frau Melanie kennen – sie stammt aus der Region – sondern auch den Chiemgau und die Menschen dort. Und auch wenn er irgendwann wieder ging, um weitere berufliche Erfahrungen zu sammeln – die Gegend ließ ihn nicht mehr los. Seit sechs Jahren lebt er mit seiner Familie hier, seit 2021 ist er Küchenchef des Restaurants „es:senz“, das er im Handumdrehen an die allerhöchste Spitze kochte. Und noch immer hält seine Wahlheimat die schönsten Entdeckungen für ihn bereit.

Wie schmeckt der Chiemgau?
Seit Sigl permanent hier lebt, ist er zum engagierten Produktscout geworden. So fährt er mit dem Chiemseefischer Florian Lex morgens um vier hinaus auf den See. Er ist begeistert von der Frische der Renken, die direkt nach dem Fang in der traditionsreichen Fischerei auf der Fraueninsel geschlachtet werden. „Sie haben einen ganz anderen Glanz, eine so straffe Struktur“, sagt Sigl. „Ich habe seither eine neue Beziehung zum Produkt.“ Saiblinge und Forellen holt er morgens auf dem Weg zur Arbeit in der nahen Fischzucht Thalhamer Mühle, die mitten im Grünen in einem Naturschutzgebiet liegt. Tomaten alter Sorten in allen Farben und Formen darf er eigenhändig auf den Feldern der Demeter-Gärtnerei Jolling ernten. „Ich habe eine ganz bestimmte Vorstellung von Größe und Reifegrad“, sagt Sigl. Seine neueste Entdeckung ist das Achental-Wagyu von Christian Kreuz, dessen Rinder nur ein paar Hundert Meter vom Restaurant entfernt weiden. Sigls erster Besuch dort war denkwürdig: „Ein Bulle stürmte direkt auf mich zu. Mir rutschte das Herz in die Hose – dabei wollte er nur kuscheln.“ Erste Lektion für den Küchenchef: Wagyus schmusen gerne, wollen gestreichelt werden. Zweite Lektion: Die Edelrinder bereichern seine Küche auf vielfältige Art, vom Filet bis zum Nierenfett, das er zum Confieren verwendet. Sein Lieblingsstück? „Der Deckel vom Rib-Eye mit seinem unglaublichen Biss und Schmelz!“

Für das „es:senz“ änderte er seinen Küchenstil – warum?
„Sie haben den Chiemgau wachgeküsst“, hat neulich ein Stammgast zu ihm gesagt. Tatsächlich erlebt die Region kulinarisch derzeit enormen Auftrieb – nicht zuletzt, weil die Zusammenarbeit mit dem Spitzenkoch bei den Produzenten zu einem ganz neuen Qualitätsbewusstsein führt, von dem auch andere Häuser profitieren. Auch Sigl selbst hat sich verändert. Geprägt durch die Jahre bei Juan Amador und in Fabrice Kieffers Münchner „Les Deux“, kochte er früher internationaler, zum Beispiel mit asiatischen Einflüssen. Seit er im Chiemgau lebt und arbeitet, hat er nicht nur die Produkte der Region ins Herz geschlossen, sondern setzt auch wieder vermehrt auf klassisches Handwerk, so wie er es einst in Winklers „Residenz“ lernte. So inspirierte ihn das Achental-Wagyu im Winter zu einer raffinierten Variante des Szegediner Gulaschs. Mit geschmortem Sauerkraut, abgeflämmter Spitzpaprika, Sauerrahm und Rauchpaprikajus bewahrt er die vertraute Gulascharomatik, interpretiert das Gericht optisch aber ganz neu.

Wie sieht ein Menü bei Edip Sigl aus?
Sigl lässt den Gästen die Freiheit, aus zwei Menüs zu wählen, die kombiniert werden dürfen: „Chiemgau pur“ und „Chiemgau goes around the world“. Im erstgenannten dreht sich alles um die Schätze der Region: Den seltenen Huchen grillt Sigl auf der Hautseite wie einen bayerischen Steckerlfisch. Die reichhaltige Sauce dazu ist ein Fest der Aromen und Texturen – mit Erbsen, Ingwer, Kürbis, Dill und der pochierten Leber des Fischs. Die Innerei ist eine Delikatesse, die hier für einzigartige Cremigkeit sorgt. Im internationalen Menü zelebriert Sigl seine Leidenschaft für die großen Produkte und inspirierenden Einflüsse aus aller Welt. Er schneidet etwa handgetauchte Jakobsmuscheln aus Norwegen zum Tatar und serviert sie mit Bärlauchkapern, Fingerlimes, einer Nocke Kaviar, gebranntem Lauch-Öl und erfrischender Ponzu-Vinaigrette. Große Kochkunst ist auch die an der Karkasse gebratene Miéral-Taube, die dem Gast zunächst im Ganzen präsentiert wird. Später kommt die ausgelöste Brust mit Périgord-Trüffel, wildem Brokkoli und einem mit dem Keulenfleisch gefüllten Raviolo an den Tisch. Dazu lässt Sigl gleich zwei Saucen servieren: Trüffel-Jus mit Madeira und, am Tisch angelöffelt, Spitzmorchel-Sherry-Schaum.

Welche Rolle spielen Saucen in seiner Küche?
Sie sind Chefsache, Sigl übernimmt den Saucier-Posten selbst. „Saucen sind für mich die Seele jedes Menüs“, sagt er. Die köstlichen Jus, Fonds oder Essenzen, davon ist Sigl überzeugt, gehen direkt ans Gemüt. Und selbstverständlich verändert er sie im Verlauf des Jahres: „Nehmen Sie eine klassische Beurre blanc. Die ist im Winter ein bisschen buttriger, wärmender, dickflüssiger. Und im Sommer leichter, bekömmlicher, spritziger – mit einem Tick Säure, den sie einreduziertem Weißwein oder Chardonnay-Essig verdankt.“ Sigls Lieblingssauce aber ist jene mit Madeira, die er zur Taube serviert: „Eine echte Soulfood-Sauce.“ Ihre Geschmackstiefe verdankt sie drei Flaschen extrem einreduziertem Madeira, dessen Süße-Säure-Spiel mit kraftvollem Hühnerfond und den erdigen Noten von Trüffeljus komplettiert wird. Ein solches Saucen-Kunstwerk bleibt im Restaurant grundsätzlich in einem kleinen Kännchen auf dem Tisch stehen – und wird von den glücklichen Gästen stets bis auf den letzten Tropfen geleert.
Konzept: In kürzester Zeit kochte Edip Sigl das stimmungsvolle Fine-Dining-Restaurant des Ferien- und Golfhotels Das Achental im Chiemgau in die deutsche Spitzenliga. Drei Menüs (regional, international und vegetarisch).
Küche: Mit enormem Engagement geben Edip Sigl und sein junges Team hier seit Sommer 2021 Gas. Großes klassisches Handwerk und zeitgemäße Inspiration prägen seinen Stil, engagierte Erzeuger der Region liegen ihm besonders am Herzen. Das Menü „Chiemgau pur“ startet mit hervorragendem Tatar vom Chiemsee-Zander, raffiniert begleitet von Walnuss-Gelee, N25 Kaviar und erfrischender Dill-Vinaigrette. Ein Höhepunkt der Hauptgang mit Achental Wagyu vom benachbarten Züchter, kreativ inszeniert nach Szegediner Art: Mit geschmortem Sauerkraut, abgeflämmter Spitzpaprika, Sauerrahm und Rauchpaprikajus erzeugt Sigl vertraute Gulascharomatik. Doch auch für Gutes aus aller Welt hat Sigl ein Herz (im Menü „Chiemgau goes around the world“): eine hauchdünne Scheibe Lardo verleiht ultrafrischem Langostino einen Tick Dichte und Üppigkeit. Immer ein Highlight: Die engagierte Pâtisserie von Désirée Nieder, von der Neuinterpretation der Pavlova bis zum Bratapfel mit federleichter Calvados-Zabaione.
Wein: Die Pairings von Iiro Lutter sind ebenso einfallsreich wie auf den Punkt. Spitzen-Weinkarte mit Jahrgangstiefe und Raritäten (rund 1200 Positionen).
Atmosphäre: Heimische Materialien setzen den Ton im großzügig-stimmungsvollen Restaurant mit Kamin und Gartenblick. Das gutgelaunte junge Serviceteam lässt es an nichts fehlen.
Fazit: Große Küche und inspirierte Gastlichkeit – Wohlfühlen auf höchstem Niveau